TextüberlieferungBeschreibung und Einordnung des Buchschmucks Die Bianchi girari dieses Codex sind aus schlanken Ranken gebildet, die in rundlich prallen und meist untersichtig gezeigten Blattformationen mit seitwärts ausgelegten, großen Blättern enden. Diese setzen ohne verbindende Elemente wie Fruchtknoten oder Ringe direkt an die Zweige an. Auch die Ranken selbst wurden durch keine weiteren Motive unterteilt (hier gibt es nur eine verzierte Manschette am Ansatz des Rankenstammes, danach keine weiteren Riemchen, Wellenlinien oder Nodi an den Zweigen), lediglich an den Gabelungen weisen sie gelegentlich zarte Querstrichel auf. Die Ranken scheinen zum Teil durch den Buchstabenkörper hindurch zu wachsen und folgen danach einer ruhigen, geradlinigen Außenkante. Oft kamen dafür längliche, gewellte Blätter zum Einsatz, die sich links und rechts zu kleinen Schnecken drehen. Die Zwischenräume der nach Möglichkeit in Spiralen angelegten Rankenformationen sind rubinrot, grün und blau ausgemalt und mit hellen Punkten akzentuiert. An die Bianchi girari-Bordüren der ersten Seite wurden zusätzlich filigrane Arrangements aus schwarz konturierten Goldpunkten und in Tinte ausgeführtem Federrankendekor ("Blumensträußchen") angefügt. All das lässt die Ausbildung dieses Illuminators in Florenz erkennen, wenngleich die Dichte der Rankenführung und auch die Vorliebe für konzentrische Kreisformen einer Mode entspricht, wie sie im dritten Viertel des Jahrhunderts in Rom und Neapel bevorzugt wurde.
Die Buchzier dieses Codex folgt dem Stil des Gioacchino di Giovanni de Gigantibus (dok. 1450–1485) und ist mit großer Wahrscheinlichkeit seinem Atelier zuzuschreiben. Gioacchino - eigentlich Joachim Riß, ein Kalligraph aus Rothenburg ob der Tauber - hatte sein Handwerk in Florenz gelernt und vermutlich 1455 oder etwas davor seine eigene Bottega in Rom eröffnet (De Marinis 1952, 61f. ; Alexander-De la Mare 1969, 36-38, 79-81 ; Toscano 1998, 256 ). In Rom arbeitete er v.a. im Auftrag der römischen Kurie und illuminierte handgeschriebene Werke ebenso wie Inkunabeln, sehr oft auch in Zusammenarbeit mit anderen Meistern. Zabeo beschrieb ihn als eine Persönlichkeit, "die zu einer umfangreichen und lang anhaltenden Serienproduktion fähig war und alle Möglichkeiten des römischen Marktes ausschöpfte
" (Zabeo 2016, 16 ). Die ältere Forschung war angesichts der vielen Werke von einer Großwerkstatt unter der Leitung des Jacopo Fabriano ausgegangen, in der auch Gioacchino de Gigantibus , Andrea da Firenze (s. Cod. 218 – Kat. ##) und Giuliano di Amadeo (auch Amedei) mitgearbeitet haben sollen. Tatsächlich hatte Jacopo Fabrianos Werkstatt vom Papst mehrfach Gelder für den Kauf von Schreibmaterial oder für die Ausführung nicht näher bezeichneter Arbeiten erhalten, allerdings scheinen auch alle anderen genannten Buchmaler namentlich wiederholt als "Illuminatoren seiner Heiligkeit" in den Rechnungsbüchern auf (Zabeo 2016, 54 ). 1471 übersiedelte Gioacchino nach Neapel , wo er bis 1480 für den arragonesischen Hof arbeitete, für seine letzten Lebensjahre (†1485) kehrte er wieder nach Rom in den Dienst des Papstes zurück (zur Rekonstruktion seines Lebenslaufs und Œuvres s. Ruysschaert 1968 ; im Überblick bei Pasut 2004 ). Er war somit nicht nur einer der hoch angesehenen Künstler, die den Bianchi girari-Dekor von Florenz in den Süden weitergetragen haben, er steht auch exemplarisch für den regen Austausch zwischen Neapel , Rom und Florenz , und zwar nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf intellektueller Ebene.
Da sich die Bianchi girari-Dekore innerhalb seines Œuvres kaum veränderten, können allein angesichts figurenloser Bordüren keine exakte Datierungen vorgenommen werden. Im Falle Gioacchinos ist dies umso bedauerlicher, als die Datierung sogar Rückschlüsse auf seinen Aufenthaltsort zuließe. Bis dato schließt sich die Forschung Hermanns Urteil an, der an den "Stil Neapels " dachte, ohne dies weiter zu begründen (Hermann 1933, 17 ). Das Wissen darum, dass Gioacchino in Florenz ausgebildet wurde, sowie einige datierte und lokalisierte Werke seiner nachfolgenden Schaffenszeit können jedoch dabei helfen, Hermanns Expertise nachzuvollziehen. So müssten zunächst die früheren Arbeiten des Künstlers enger an florentiner Werke anschließen als die späteren. Ein repräsentatives Beispiel aus seiner frühen römischen Zeit ist mit BAV, Vat. lat. 2096 erhalten, das er für keinen Geringeren als Papst Nikolaus V. (†1455) illuminiert hat (Maddalo 1994, 21 ). Wie der Florentiner Buchmaler Bartolomeo Varnucci (um 1412/13–1479), von dem er viel übernahm, erweiterte er hier die Palette der Zwickelgrundierungen um Gold (Gelb) und verwendete für die weitere Ausmalung die Pastelltöne Rosa, Grün und Blau, wie wir es aus Florenz kennen. Das Arrangement im Bas de page mit den beiden kräftigen, aus einer mittig platzierten Blütenformation emporstrebenden Rankenstämmen erinnert an Werke des Filippo Torelli (1409–1468; vgl. Cod. 170 - Kat. ##) oder an Gioacchinos Zeitgenossen Francesco del' Chierico in Florenz (1433–1484; vgl. Cod. 22 - Kat. ##), die ockergelbe Lavierung der Blätter abermals an den älteren Bartolomeo Varnucci bzw. den Zeitgenossen Mariano del Buono (1433–1504; vgl. Cod. 23 - Kat. ##). Auch die Belebung der Ranken durch Vögel, Schmetterlinge und Putten kennen wir grundsätzlich aus der florentiner Buchmalerei. Mittels Blattformationen versuchte Gioacchino einer geraden Linie zu folgen, sodass sich seine Rankenbordüren wie glatte Bänder um den Schriftspiegel legen - zusätzlich mit Goldleisten eingefasst sind sie nicht. Diesem Schema blieb er auch in weiteren Aufträgen, die er in den 50er und den 60er Jahren für die Kurie ausführte, treu (vgl. BAV, Vat. lat. 1057 und 4123, oder
BL, Yates Thompson 39, dat. 1469). Ein Beispiel aus der neapolitanischen Zeit stellt das 1473/74 für König Ferdinand I. von Neapel (1458–1494) angefertigte Plutarch-Kompendium dar, das in Zusammenarbeit von Gioacchino de Gigantibus und dem neapolitanischen Künstler Cola Rapicano (dok. 1451–1488) mit Illuminationen versehen wurde (Paris, BnF, Latin 5827 und 5831). Mit den Codices Latin 12946 vgl. f. 23r (dat. 1476) und 6793 (mit vergleichbarem Tintendekor an den Goldtropfen) werden in der Pariser BnF weitere, sicher in Neapel entstandene Werke des Künstlers aufbewahrt - dies kann aus Rechnungen und auch aus Schlussschriften wie jener in Latin 12946, f. 422v, abgeleitet werden: Exscripte et miniate per me Ioachinum de Gigantibus Rotenburgensem pro invictissimo princeps Fernando I. (...) MCCCCLXXVI.
Gioacchinos Stil wurde mit der Zeit schematischer, die Ranken kreisen in ruhigen, klar symmetrischen Formationen innerhalb der nun v.a. bei Prachtausgaben von Goldleisten gerahmten Bordüren. Im Laufe der Jahre ist auch eine Hinwendung zu dunklerem Rubinrot und Olivgrün für die Füllungen der Binnenfelder zu beobachten, wie wir es in Cod. 292 sehen, der somit kein Werk aus der ersten römischen Phase Gioacchinos sein kann. Ein spätes, von Cristoforo Persona (1416–1485), Präfekt der Biblioteca Vaticana ab 1484, persönlich an Matthias Corvinus adressiertes Werk sind die "Historiarum libri I-V" des Agathias Scholasticus , die bereits 1483/84 datiert werden und nach Gioacchinos Rückkehr in Rom entstanden sind (BSB, Clm 294 - mit vergleichbarem Tintendekor an den Goldtropfen). Stilistisch auf derselben Stufe stehen auch die für Papst Sixtus IV (1471–1484) in Rom illuminierten Werke aus der ersten Hälfte der 80er Jahre, wie etwa die Prunkausgabe der päpstlichen Statutenstiftung (BAV, Vat. lat. 3568 - mit Tintendekor wie in Cod. 292) oder dessen Hieronymus-Psalterium, das Gioacchino im Jahr 1481 geschrieben und illuminiert hat (Roma, Biblioteca nazionale centrale Vittorio Emanuele II, Vittorio Emanuele, Vitt.Em.1430; zu Gioacchino‘s Werk für Papst Sixtus IV. s. Niutta 2009 ).
Im Vergleich zu den genannten Beispielen handelt es sich bei Cod. 292 um eine bescheidenere Arbeit seines Ateliers, die dennoch sorgfältig ausgeführt wurde. Das goldene Monogramm des ungarischen Königs auf blauem, mit weißen Spiralen versehenen Grund wurde erst in Buda in den von einer goldenen Leiste eingefassten Lorbeerkranz gemalt. Die nach links und rechts flatternden, in lavierter Tintenzeichnung ausgeführten Bänder und die eingestreuten Goldplättchen mit Tintendekor sind jedoch in der italienischen Werkstatt entstanden. Die hier verwendeten Blattformen gleichen jenen, die nach dem jeweiligen Frontispiz der Codices BnF Latin 12946 und 6793 die Kapitel zieren, die dünkleren Farbtöne weisen nach obigen Vergleichen ebenfalls auf eine Entstehung nach 1475 (oder später) hin: Insofern kann nun Hermanns Bemerkung, er fühle sich an Neapel erinnert, gut nachvollzogen werden, obwohl er keine Künstlernamen bzw. Werke dafür nannte.
Genauere Anhaltspunkte bieten die in diesem Codex überlieferten Texte. Den Terminus post quem für die Datierung unseres Codex stellen die um 1471 entstandene, Lorenzo de‘ Medici gewidmete und Ende 1477 in Venedig gedruckte „Explanatio in Persium“ samt einem anschließenden Brief des Florentiner Humanisten Bartholomeo Fonzio (1446–1513) dar (Takács-Tuhári 2015, XIII; ISTC if00241000), von der heute insgesamt noch vier handgeschriebene Exemplare bekannt sind (aufgelistet bei Takács-Tuhári 2015, XV-XVII, Cod. 292 auf XVIf.; Rossetti 2017, XV). Bis auf ein Exemplar, nämlich jenes in Wolfenbüttel, das der Autor eigenhändig kopiert und während seines Aufenthalts in Buda im Jahr 1489 König Matthias und dessen Sohn Johannes gewidmet hatte, können diese jedoch nicht genauer als in das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert werden (zum Wolfenbüttler Codex HAB, 43 Aug. 2° bes. Takács 2005, 79; Takács-Tuhári 2015, XIV; Zsupán, Corvina Augusta 2014, ##; Zsupán 2016, 36–46, mit Hinweis auf die Textüberlieferung in Cod. 292: 38f.). Cod. 292 überliefert außerdem – wie das Wolfenbüttler Exemplar – die erste Fassung eines Briefes über antike Maß- und Gewichtseinheiten, den Fonzio offenbar am 1. Jänner 1472 an seinen Förderer Francesco Sassetti (1421–1490), den Bankier der Medici, geschrieben hatte (De la Mare 1976, 195, Anm. 49; Zsupán 2016, 39 [mit Transkription und Datierung des Explicits von HAB, 43 Aug. 2°, f. 118r; Cod. 292 endet ohne Datierung]; weiter dazu bei Zsupán in diesem Band).
Takács-Tuhári zufolge ist die „Expositio“ in Cod. 292 eine fehlerhafte Abschrift und daher weder eine eigenhändige Kopie des Autors noch eine von ihm durchgesehene Fassung. Sie basiert vielmehr auf der gedruckten Erstausgabe von 1477 und kann folglich erst danach, auch unabhängig vom Aufenthaltsort des Autors, entstanden sein. Takács-Tuhári plädierten angesichts dessen für eine Datierung dieses Codex gegen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 15. Jahrhunderts, zumal die spätere Redaktion der „Expositio“ (überliefert im 1489 datierten Widmungsexemplar an den ungarischen König) hier noch nicht berücksichtigt wurde. Da der Dekor des Cod. 292 wohl der Werkstatt des Gioacchino de Gigantibus zuzuordnen ist und der Meister 1485 starb, müssen die Illuminationen somit zwischen frühestens 1478 und spätestens 1485 entstanden sein, was mit dem stilistischen Befund gut übereinstimmt. (Letzte Erwähnung des Künstlers am 20. September 1485, s. De Marinis 1952, 161 n. 17; Zebeo 2016, 260). Die Frage, ob die Bianchi girari des Cod. 292 kurz vor oder nach 1480 - und damit “noch” in Neapel oder “schon” in Rom entstanden sind, lässt sich allerdings anhand des Buchschmucks nicht beantworten. Eventuell könnte die dunkle Farbpalette, vergleichbar jener der für Papst Sixtus entstandenen Werke, für eine Datierung nach 1480 in Rom sprechen.
Es bestanden in jenen Jahren insbesondere durch die Persönlichkeit des Kardinals Giovanni d‘Aragona (1456–1485) sehr enge Verbindungen zwischen dem Hof in Buda, der römischen Kurie und dem Königshaus in Neapel . Giovanni d‘Aragona, Sohn des Königs Ferdinand I. und Bruder der Königin Beatrix, war Zeit seines Lebens Generaladjutant der Könige von Neapel . Als päpstlicher Legat reiste er 1479/80 und 1483 nach Ungarn, wo er zum Administrator der Erzdiözese von Esztergom ernannt wurde. Gioacchino de Gigantibus wiederum arbeitete in Rom nicht nur für Papst und Kurie, sondern in Neapel auch für das Königshaus, für Ferdinand I. ebenso wie für dessen Sohn, Kardinal Giovanni. Für letzteren schuf er 1478 eine Prachtausgabe der „Astronomia“ des Christianus Prolianus (Manchester, Ryland Library, MS 53). Mag sein, dass der vergleichsweise kleine Auftrag für Cod. 292 auf diese Beziehungen zurückzuführen ist und mit Kardinal Giovanni d‘Aragona oder einem Mitglied seiner Entourage nach Buda gelangte.
Literatur: Hermann (1933), 17; Tammaro De Marinis, La biblioteca napoletana dei re d'Aragona, I, Milano 1952, 48, 61f., 149, 161; José Ruysschaert, Miniaturistes "romains" sous Pie II. Siena 1968, 245-282; Albinia C. De la Mare, The Library of Francesco Sassetti (1421–1490), in: Cecil H. Clough (ed.), Cultural aspects of the Italian Renaissance. Essays in honour of Paul Oskar Kristeller. Manchester 1976, 160–201; Jonathan J.G. Alexander-Albinia C. De la Mare, The Italian Manuscripts in the Library of Major J.R. Abbey. London 1969; Silvia Maddalo, Quasi preclarissima suppellectile. Corte papale e libro miniato nella Roma di primo Rinascimento. Studi Romani 42 (1994), 1/2, 16-32; Gennaro Toscano (ed.), La biblioteca di Napoli al tempo della dinastia aragonese (Ausst. Kat.). Napoli-Valencia 1998, 437-440, 582f.; Francesca Rosa Pasut, Gioacchino di Giovanni de' Gigantibus, in: Dizionario biografico dei miniatori italiani, secoli IX-XVI, hg. M. Bollati. Milano 2004, 265-267; László Takács, Bartolomeo Fonzio and Greek literature. Verbum analecta neolatina 2005, 77-115; Francesca Niutta, Il salterio di Gioacchino de Gigantibus per Sisto IV alla Biblioteca Nazionale, in: Roma nel rinascimento. Bibliografia e note. Rom 2009, 281-288; László Takács – Attila Tuhári, Two Renaissance commentaries on Persius: Bartholomaeus Fontius' and Ioannes Britannicus' commentaries on Persius. (Studia philologica 4, Commentarii in Persii satiras saeculorum XIV–XVI). Budapest 2015; Laura Zabeo, I libri dei papi umanisti. La miniatura a Roma nel primo rinascimento. Phil. diss. Florenz 2016, bes. 260-267 (Zusammenfassung und Œuvre); Federica Rossetti, Il commento a Persio di Giovanni Britannico e la sua ricezione nel Cinquecento europeo: edizione critica e studio introduttivo. Literature. Phil. diss. Strasbourg 2017.
TextüberlieferungBeschreibung und Einordnung des Buchschmucks Die Bianchi girari dieses Codex sind aus schlanken Ranken gebildet, die in rundlich prallen und meist untersichtig gezeigten Blattformationen mit seitwärts ausgelegten, großen Blättern enden. Diese setzen ohne verbindende Elemente wie Fruchtknoten oder Ringe direkt an die Zweige an. Auch die Ranken selbst wurden durch keine weiteren Motive unterteilt (hier gibt es nur eine verzierte Manschette am Ansatz des Rankenstammes, danach keine weiteren Riemchen, Wellenlinien oder Nodi an den Zweigen), lediglich an den Gabelungen weisen sie gelegentlich zarte Querstrichel auf. Die Ranken scheinen zum Teil durch den Buchstabenkörper hindurch zu wachsen und folgen danach einer ruhigen, geradlinigen Außenkante. Oft kamen dafür längliche, gewellte Blätter zum Einsatz, die sich links und rechts zu kleinen Schnecken drehen. Die Zwischenräume der nach Möglichkeit in Spiralen angelegten Rankenformationen sind rubinrot, grün und blau ausgemalt und mit hellen Punkten akzentuiert. An die Bianchi girari-Bordüren der ersten Seite wurden zusätzlich filigrane Arrangements aus schwarz konturierten Goldpunkten und in Tinte ausgeführtem Federrankendekor ("Blumensträußchen") angefügt. All das lässt die Ausbildung dieses Illuminators in Florenz erkennen, wenngleich die Dichte der Rankenführung und auch die Vorliebe für konzentrische Kreisformen einer Mode entspricht, wie sie im dritten Viertel des Jahrhunderts in Rom und Neapel bevorzugt wurde.
Die Buchzier dieses Codex folgt dem Stil des Gioacchino di Giovanni de Gigantibus (dok. 1450–1485) und ist mit großer Wahrscheinlichkeit seinem Atelier zuzuschreiben. Gioacchino - eigentlich Joachim Riß, ein Kalligraph aus Rothenburg ob der Tauber - hatte sein Handwerk in Florenz gelernt und vermutlich 1455 oder etwas davor seine eigene Bottega in Rom eröffnet (De Marinis 1952, 61f. ; Alexander-De la Mare 1969, 36-38, 79-81 ; Toscano 1998, 256 ). In Rom arbeitete er v.a. im Auftrag der römischen Kurie und illuminierte handgeschriebene Werke ebenso wie Inkunabeln, sehr oft auch in Zusammenarbeit mit anderen Meistern. Zabeo beschrieb ihn als eine Persönlichkeit, "die zu einer umfangreichen und lang anhaltenden Serienproduktion fähig war und alle Möglichkeiten des römischen Marktes ausschöpfte
" (Zabeo 2016, 16 ). Die ältere Forschung war angesichts der vielen Werke von einer Großwerkstatt unter der Leitung des Jacopo Fabriano ausgegangen, in der auch Gioacchino de Gigantibus , Andrea da Firenze (s. Cod. 218 – Kat. ##) und Giuliano di Amadeo (auch Amedei) mitgearbeitet haben sollen. Tatsächlich hatte Jacopo Fabrianos Werkstatt vom Papst mehrfach Gelder für den Kauf von Schreibmaterial oder für die Ausführung nicht näher bezeichneter Arbeiten erhalten, allerdings scheinen auch alle anderen genannten Buchmaler namentlich wiederholt als "Illuminatoren seiner Heiligkeit" in den Rechnungsbüchern auf (Zabeo 2016, 54 ). 1471 übersiedelte Gioacchino nach Neapel , wo er bis 1480 für den arragonesischen Hof arbeitete, für seine letzten Lebensjahre (†1485) kehrte er wieder nach Rom in den Dienst des Papstes zurück (zur Rekonstruktion seines Lebenslaufs und Œuvres s. Ruysschaert 1968 ; im Überblick bei Pasut 2004 ). Er war somit nicht nur einer der hoch angesehenen Künstler, die den Bianchi girari-Dekor von Florenz in den Süden weitergetragen haben, er steht auch exemplarisch für den regen Austausch zwischen Neapel , Rom und Florenz , und zwar nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf intellektueller Ebene.
Da sich die Bianchi girari-Dekore innerhalb seines Œuvres kaum veränderten, können allein angesichts figurenloser Bordüren keine exakte Datierungen vorgenommen werden. Im Falle Gioacchinos ist dies umso bedauerlicher, als die Datierung sogar Rückschlüsse auf seinen Aufenthaltsort zuließe. Bis dato schließt sich die Forschung Hermanns Urteil an, der an den "Stil Neapels " dachte, ohne dies weiter zu begründen (Hermann 1933, 17 ). Das Wissen darum, dass Gioacchino in Florenz ausgebildet wurde, sowie einige datierte und lokalisierte Werke seiner nachfolgenden Schaffenszeit können jedoch dabei helfen, Hermanns Expertise nachzuvollziehen. So müssten zunächst die früheren Arbeiten des Künstlers enger an florentiner Werke anschließen als die späteren. Ein repräsentatives Beispiel aus seiner frühen römischen Zeit ist mit BAV, Vat. lat. 2096 erhalten, das er für keinen Geringeren als Papst Nikolaus V. (†1455) illuminiert hat (Maddalo 1994, 21 ). Wie der Florentiner Buchmaler Bartolomeo Varnucci (um 1412/13–1479), von dem er viel übernahm, erweiterte er hier die Palette der Zwickelgrundierungen um Gold (Gelb) und verwendete für die weitere Ausmalung die Pastelltöne Rosa, Grün und Blau, wie wir es aus Florenz kennen. Das Arrangement im Bas de page mit den beiden kräftigen, aus einer mittig platzierten Blütenformation emporstrebenden Rankenstämmen erinnert an Werke des Filippo Torelli (1409–1468; vgl. Cod. 170 - Kat. ##) oder an Gioacchinos Zeitgenossen Francesco del' Chierico in Florenz (1433–1484; vgl. Cod. 22 - Kat. ##), die ockergelbe Lavierung der Blätter abermals an den älteren Bartolomeo Varnucci bzw. den Zeitgenossen Mariano del Buono (1433–1504; vgl. Cod. 23 - Kat. ##). Auch die Belebung der Ranken durch Vögel, Schmetterlinge und Putten kennen wir grundsätzlich aus der florentiner Buchmalerei. Mittels Blattformationen versuchte Gioacchino einer geraden Linie zu folgen, sodass sich seine Rankenbordüren wie glatte Bänder um den Schriftspiegel legen - zusätzlich mit Goldleisten eingefasst sind sie nicht. Diesem Schema blieb er auch in weiteren Aufträgen, die er in den 50er und den 60er Jahren für die Kurie ausführte, treu (vgl. BAV, Vat. lat. 1057 und 4123, oder
BL, Yates Thompson 39, dat. 1469). Ein Beispiel aus der neapolitanischen Zeit stellt das 1473/74 für König Ferdinand I. von Neapel (1458–1494) angefertigte Plutarch-Kompendium dar, das in Zusammenarbeit von Gioacchino de Gigantibus und dem neapolitanischen Künstler Cola Rapicano (dok. 1451–1488) mit Illuminationen versehen wurde (Paris, BnF, Latin 5827 und 5831). Mit den Codices Latin 12946 vgl. f. 23r (dat. 1476) und 6793 (mit vergleichbarem Tintendekor an den Goldtropfen) werden in der Pariser BnF weitere, sicher in Neapel entstandene Werke des Künstlers aufbewahrt - dies kann aus Rechnungen und auch aus Schlussschriften wie jener in Latin 12946, f. 422v, abgeleitet werden: Exscripte et miniate per me Ioachinum de Gigantibus Rotenburgensem pro invictissimo princeps Fernando I. (...) MCCCCLXXVI.
Gioacchinos Stil wurde mit der Zeit schematischer, die Ranken kreisen in ruhigen, klar symmetrischen Formationen innerhalb der nun v.a. bei Prachtausgaben von Goldleisten gerahmten Bordüren. Im Laufe der Jahre ist auch eine Hinwendung zu dunklerem Rubinrot und Olivgrün für die Füllungen der Binnenfelder zu beobachten, wie wir es in Cod. 292 sehen, der somit kein Werk aus der ersten römischen Phase Gioacchinos sein kann. Ein spätes, von Cristoforo Persona (1416–1485), Präfekt der Biblioteca Vaticana ab 1484, persönlich an Matthias Corvinus adressiertes Werk sind die "Historiarum libri I-V" des Agathias Scholasticus , die bereits 1483/84 datiert werden und nach Gioacchinos Rückkehr in Rom entstanden sind (BSB, Clm 294 - mit vergleichbarem Tintendekor an den Goldtropfen). Stilistisch auf derselben Stufe stehen auch die für Papst Sixtus IV (1471–1484) in Rom illuminierten Werke aus der ersten Hälfte der 80er Jahre, wie etwa die Prunkausgabe der päpstlichen Statutenstiftung (BAV, Vat. lat. 3568 - mit Tintendekor wie in Cod. 292) oder dessen Hieronymus-Psalterium, das Gioacchino im Jahr 1481 geschrieben und illuminiert hat (Roma, Biblioteca nazionale centrale Vittorio Emanuele II, Vittorio Emanuele, Vitt.Em.1430; zu Gioacchino‘s Werk für Papst Sixtus IV. s. Niutta 2009 ).
Im Vergleich zu den genannten Beispielen handelt es sich bei Cod. 292 um eine bescheidenere Arbeit seines Ateliers, die dennoch sorgfältig ausgeführt wurde. Das goldene Monogramm des ungarischen Königs auf blauem, mit weißen Spiralen versehenen Grund wurde erst in Buda in den von einer goldenen Leiste eingefassten Lorbeerkranz gemalt. Die nach links und rechts flatternden, in lavierter Tintenzeichnung ausgeführten Bänder und die eingestreuten Goldplättchen mit Tintendekor sind jedoch in der italienischen Werkstatt entstanden. Die hier verwendeten Blattformen gleichen jenen, die nach dem jeweiligen Frontispiz der Codices BnF Latin 12946 und 6793 die Kapitel zieren, die dünkleren Farbtöne weisen nach obigen Vergleichen ebenfalls auf eine Entstehung nach 1475 (oder später) hin: Insofern kann nun Hermanns Bemerkung, er fühle sich an Neapel erinnert, gut nachvollzogen werden, obwohl er keine Künstlernamen bzw. Werke dafür nannte.
Genauere Anhaltspunkte bieten die in diesem Codex überlieferten Texte. Den Terminus post quem für die Datierung unseres Codex stellen die um 1471 entstandene, Lorenzo de‘ Medici gewidmete und Ende 1477 in Venedig gedruckte „Explanatio in Persium“ samt einem anschließenden Brief des Florentiner Humanisten Bartholomeo Fonzio (1446–1513) dar (Takács-Tuhári 2015, XIII; ISTC if00241000), von der heute insgesamt noch vier handgeschriebene Exemplare bekannt sind (aufgelistet bei Takács-Tuhári 2015, XV-XVII, Cod. 292 auf XVIf.; Rossetti 2017, XV). Bis auf ein Exemplar, nämlich jenes in Wolfenbüttel, das der Autor eigenhändig kopiert und während seines Aufenthalts in Buda im Jahr 1489 König Matthias und dessen Sohn Johannes gewidmet hatte, können diese jedoch nicht genauer als in das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert werden (zum Wolfenbüttler Codex HAB, 43 Aug. 2° bes. Takács 2005, 79; Takács-Tuhári 2015, XIV; Zsupán, Corvina Augusta 2014, ##; Zsupán 2016, 36–46, mit Hinweis auf die Textüberlieferung in Cod. 292: 38f.). Cod. 292 überliefert außerdem – wie das Wolfenbüttler Exemplar – die erste Fassung eines Briefes über antike Maß- und Gewichtseinheiten, den Fonzio offenbar am 1. Jänner 1472 an seinen Förderer Francesco Sassetti (1421–1490), den Bankier der Medici, geschrieben hatte (De la Mare 1976, 195, Anm. 49; Zsupán 2016, 39 [mit Transkription und Datierung des Explicits von HAB, 43 Aug. 2°, f. 118r; Cod. 292 endet ohne Datierung]; weiter dazu bei Zsupán in diesem Band).
Takács-Tuhári zufolge ist die „Expositio“ in Cod. 292 eine fehlerhafte Abschrift und daher weder eine eigenhändige Kopie des Autors noch eine von ihm durchgesehene Fassung. Sie basiert vielmehr auf der gedruckten Erstausgabe von 1477 und kann folglich erst danach, auch unabhängig vom Aufenthaltsort des Autors, entstanden sein. Takács-Tuhári plädierten angesichts dessen für eine Datierung dieses Codex gegen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 15. Jahrhunderts, zumal die spätere Redaktion der „Expositio“ (überliefert im 1489 datierten Widmungsexemplar an den ungarischen König) hier noch nicht berücksichtigt wurde. Da der Dekor des Cod. 292 wohl der Werkstatt des Gioacchino de Gigantibus zuzuordnen ist und der Meister 1485 starb, müssen die Illuminationen somit zwischen frühestens 1478 und spätestens 1485 entstanden sein, was mit dem stilistischen Befund gut übereinstimmt. (Letzte Erwähnung des Künstlers am 20. September 1485, s. De Marinis 1952, 161 n. 17; Zebeo 2016, 260). Die Frage, ob die Bianchi girari des Cod. 292 kurz vor oder nach 1480 - und damit “noch” in Neapel oder “schon” in Rom entstanden sind, lässt sich allerdings anhand des Buchschmucks nicht beantworten. Eventuell könnte die dunkle Farbpalette, vergleichbar jener der für Papst Sixtus entstandenen Werke, für eine Datierung nach 1480 in Rom sprechen.
Es bestanden in jenen Jahren insbesondere durch die Persönlichkeit des Kardinals Giovanni d‘Aragona (1456–1485) sehr enge Verbindungen zwischen dem Hof in Buda, der römischen Kurie und dem Königshaus in Neapel . Giovanni d‘Aragona, Sohn des Königs Ferdinand I. und Bruder der Königin Beatrix, war Zeit seines Lebens Generaladjutant der Könige von Neapel . Als päpstlicher Legat reiste er 1479/80 und 1483 nach Ungarn, wo er zum Administrator der Erzdiözese von Esztergom ernannt wurde. Gioacchino de Gigantibus wiederum arbeitete in Rom nicht nur für Papst und Kurie, sondern in Neapel auch für das Königshaus, für Ferdinand I. ebenso wie für dessen Sohn, Kardinal Giovanni. Für letzteren schuf er 1478 eine Prachtausgabe der „Astronomia“ des Christianus Prolianus (Manchester, Ryland Library, MS 53). Mag sein, dass der vergleichsweise kleine Auftrag für Cod. 292 auf diese Beziehungen zurückzuführen ist und mit Kardinal Giovanni d‘Aragona oder einem Mitglied seiner Entourage nach Buda gelangte.
Literatur: Hermann (1933), 17; Tammaro De Marinis, La biblioteca napoletana dei re d'Aragona, I, Milano 1952, 48, 61f., 149, 161; José Ruysschaert, Miniaturistes "romains" sous Pie II. Siena 1968, 245-282; Albinia C. De la Mare, The Library of Francesco Sassetti (1421–1490), in: Cecil H. Clough (ed.), Cultural aspects of the Italian Renaissance. Essays in honour of Paul Oskar Kristeller. Manchester 1976, 160–201; Jonathan J.G. Alexander-Albinia C. De la Mare, The Italian Manuscripts in the Library of Major J.R. Abbey. London 1969; Silvia Maddalo, Quasi preclarissima suppellectile. Corte papale e libro miniato nella Roma di primo Rinascimento. Studi Romani 42 (1994), 1/2, 16-32; Gennaro Toscano (ed.), La biblioteca di Napoli al tempo della dinastia aragonese (Ausst. Kat.). Napoli-Valencia 1998, 437-440, 582f.; Francesca Rosa Pasut, Gioacchino di Giovanni de' Gigantibus, in: Dizionario biografico dei miniatori italiani, secoli IX-XVI, hg. M. Bollati. Milano 2004, 265-267; László Takács, Bartolomeo Fonzio and Greek literature. Verbum analecta neolatina 2005, 77-115; Francesca Niutta, Il salterio di Gioacchino de Gigantibus per Sisto IV alla Biblioteca Nazionale, in: Roma nel rinascimento. Bibliografia e note. Rom 2009, 281-288; László Takács – Attila Tuhári, Two Renaissance commentaries on Persius: Bartholomaeus Fontius' and Ioannes Britannicus' commentaries on Persius. (Studia philologica 4, Commentarii in Persii satiras saeculorum XIV–XVI). Budapest 2015; Laura Zabeo, I libri dei papi umanisti. La miniatura a Roma nel primo rinascimento. Phil. diss. Florenz 2016, bes. 260-267 (Zusammenfassung und Œuvre); Federica Rossetti, Il commento a Persio di Giovanni Britannico e la sua ricezione nel Cinquecento europeo: edizione critica e studio introduttivo. Literature. Phil. diss. Strasbourg 2017.
Die Wiener Corvinen. Beschreibung von Wien, ÖNB, Cod. 292. Version 0.1, 8.5.2025. URL: https://digi-doc.onb.ac.at/fedora/objects/o:crv.cod-292/methods/sdef:TEI/get
Verantwortlich für die BeschreibungIvana Dobcheva (Kodikologie), Katharina Kaska (Kodikologie), Marianne Rozsondai (Einband), Friedrich Simader (Geschichte), Maria Theisen (Buchschmuck), Edina Zsupán (Texterschließung, Literaturerfassung)
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