Perg. II+140+II* Bl. 260×172.
Text: Florenz, um 1470
Buchschmuck: Florenz
Pergament italienischer Bearbeitung. Ränder in der ersten Lage verbräunt. — Reparaturen von Löcher fol. 137, Vor- und Nachsatzblätter. — Der Codex ist überwiegend aus regelmäßigen Quinionen zusammengestellt. Lagenformel: III + 14.V137 + III*. Als Vor- und Nachsatz je ein Doppelblatt, dessen eine Hälfte früher als Vorder- bzw. Hinterspiegel fungierte. Reklamanten von Textschreiber auf der letzten Lagenseite in der rechten unteren Ecke horizontal geschrieben. — Neuzeitliche Bleistiftfoliierung in der rechten oberen Ecke zählt fol. 103 und fol. 119 doppelt (foliiert als fol. 103* und fol. 119a); ein Blatt zwischen fol. 136 und fol. 137 übersprungen und bei der Bearbeitung 2020 neu foliiert (fol. 136a). Neue Foliierung in der linken unteren Ecke auf der Verso-Seite auf fol. 103–128. Die Vor- und Nachsatzblätter bei der Bearbeitung 2020 als fol. I–II bzw. fol. I*–II* foliiert.
170×98 mm, 1 Spalte zu 30 Zeilen. Bleistiftlinierung: Vertikale doppelte Begrenzungslinien (Abstand 7 mm) bis zum Blattrand gezogen; die Zeilenlinierung zwischen den inneren vertikalen Begrenzungen gezogen (Derolez Typ 31; Muzerelle, Mastara, formula 2-2/0/0/J). Zwei Einstichlöcher am Innenrand, ein Einstichloch am Außenrand unten. Vertikale Begrenzungen beginnen auf Recto häufig unter dem oberen Blattrand und enden auf Verso vor dem unteren Blattrand, was auf eine Linierung mittels Rake Rostrum hindeutet. Die oberste Horizontallinie als erste Schreibzeile verwendet. — Humanistica Textualis von der Hand des “scribe of Venezia, Bibl. Marciana lat. Z. 58” (vgl. de la Mare 1985, 552, Nr. 103:13). Vom selben Schreiber stammt auch ein anderer Codex in György Handós Bibliothek: olim New York, Marston Collection, Ms. 54 (heute Privatbesitz), (vgl. de la Mare 1985, 552, Nr. 103:14; Pócs 2019, 559, Nr. 20). Inhaltsverzeichnis wohl von Bartolomeo Fonzios Hand (in Handschriften dieses Schreibers kommt Fonzios Hand oft vor, wie auch in olim New York, Marston Collection, Ms. 54). Marginal glossiert vom Schreiber, dem Korrektor (die meisten Korrekturen, Auslassungen/omissions)und von Johannes Gremper (fol. 2r–v, 3r, 4v in Rot, 5r–v, 6r, 7r–v in Rot, 8r in Rot, 11r–v in Rot, 22r; 131r Lesenotizen, meistens in Rot, vgl. Geschichte). — Auf fol. II*r von einer zeitgenössischen Hand Liber Phedri Platonis per Leonardum Aretinum traductus.
Werkstatt des Francesco di Antonio del Chierico, Florenz. Rubriziert. Einleitend Bianchi girari-Bordüren, die den Schriftspiegel an drei Seiten begleiten, mit etwas Goldtropfen- und Fleuronnée-Besatz. Die 9-zeilige vergoldete Initiale Q(ui) zu Beginn des Textes ist ornamental mit den Bordüren verbunden. Im Bas-de-page zwei Vögel, die das in den 1480er Jahren vom Ersten Wappenmaler in Buda eingemalte Wappen des Königs Matthias Corvinus flankieren (Übermalung des Wappens György Handó). Danach weitere fünf Bianchi girari-Initialen, jeweils 6 Zeilen hoch.
1r | Bianchi girari-Bordüren zu drei Seiten des Schriftspiegels. Im Bas-de-page das Wappen des Königs Matthias Corvinus über dem Wappen des Erzbischofs György Handó im Lorbeerkranz. Q[ui]-Initiale, 9-zeilig, vergoldet, Bianchi girari in Verbindung mit der Rahmenbordüre |
3v | I[pse]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
104v | H[ erodotus]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
111r | S[ ocrates]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
128v | D[amnato]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
272×177×35 mm. Roter Maroquineinband über Buchenholzdeckeln – mit nach innen abgeschrägten Deckelkanten – mit einzelnen Blindstempeln und Handvergoldung. VD und HD sind gleich, am HD oben ist die Aufschrift in goldenen Majuskeln zu lesen: PHEDRVS PLATONIS. Im ersten Rahmen reihen sich vergoldete und blaue Doppelkreisplättchen (Lederauflage), aus denen sieben in den Mitten der Seiten gruppiert sind. Der zweite Rahmen ist mit blindgedrucktem Flechtwerk aus gekerbten winzigen Stempeln (Stäbchen) verziert, dazwischen farbige Kreispunzen; der Rahmen an den Schmalseiten wesentlich breiter. Das Mittelfeld ist von einer Reihe vergoldeter Tulpen umrahmt, in der Mitte der Seiten je eine kleine Rosette. Dieser Rahmen bildet an den Ecken Ausbuchtungen und in diesen vier Eckzwickeln sind verschiedene Tulpen, Blätter und Stiele. Dieser Rahmen ist von innen mit einer Reihe von kleineren blauen Kreisplättchen flankiert, an den Langseiten sind aus Doppelkreisplättchen gebildete Dreiecke. In der Mitte des Mittelfeldes ist ein betontes, orientalisches Mittelstück mit Ein- und Ausbuchtungen, das von drei Rahmen begrenzt ist. In dem ersten und dritten Rahmen Doppelkreisplättchen, im zweiten Rahmen, dessen Mittelstrecke mit je einer Rosette unterbrochen ist, reihen sich neuere Tulpen. Im Zentrum das königliche Wappen von Matthias mit Krone und umgeben von Kelchblumen, verschiedenen Tulpen, Blättern und Stielen. Spuren von vier Verschlussbändern, ursprünglich aus Textil. Am Rücken vier Doppelbünde, die Rückenfelder sind mit Diagonallinien gegliedert und mit Rosetten gefüllt. Ziselierter Goldschnitt. Das Kapital ist restauriert und ledergedeckt. Oben am HD ist das Kettenloch sichtbar. VD Spiegel aus Papier: Exlibris von Johannes Alexander Brassicanus und Johannes Fabri. Pergament Vorsatzblätter, vorne handschriftliche Eintragungen: Sum Ioannis Alexandri //.Brassicani philosophi //. ac jureconsulti. Der Einband wurde zwischen etwa 1485–1490 von einem italienischer Meister in der königlichen Buchbinderwerkstatt in Buda angefertigt (s. Mazal 1970, Nr. 86).
Tabulae codicum II, 66. — Hoffmann/Wehli 1929/1992, 99, Nr. 38. — Hermann 1932, 27–28, Nr. 20. — Mazal 1964, 361–362. — Csapodi 1973, 319, Nr. 507. — Bibliotheca Corviniana 1990, 60, Nr. 192. — Matthias Corvinus 1994, 75, Kat. 35 (Ernst Gamillscheg). — Madas 2009, 59, Nr. 97. — Pócs 2016, 335, Nr. 19. — Pócs 2019, Nr. 18.
0 (Iv) Inhaltsverzeichnis.
1 (1r–2r) Leonardo Bruni: Prologus ad Innocentium Papam VII. (Baron 1969, 3–4. — Bertalot 2004, Nr. 18042). Tit.: Leonardi Aretini prefatio in Phedrum (!) Platonis Inc.: Qui laudant sanctitatem tuam beatissime pater ... — Expl.: ... Sed iam satis ad interpretationem ipsam accedamus.
2 (2r–3v) Leonardo Bruni: Brief an Niccolò Niccoli (Mehus 1741, 15–17, Ep. I. VIII). Inc.: Et si ego mi Nicolae prius quoque vehementer amabam ... — Expl.: ... eamque ut Coluccius videat curabis. Vale.
3 (3v–49r) Plato: Phaedo, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 1990, Nr. 10072). Tit.: Platonis Phaedon de immortalitate animorum incipit lege faeliciter (!) Inc.: Ipse affuisti o Phedon ea die qua Socrates venenum bibit ... — Expl.: ... et preterea sapientissimi atque iustissimi. Platonis Phedon de immortalitate animorum explicit faeliciter.
4 (49v) Leonardo Bruni: Argumentum in Gorgia (Bertalot 1990, Nr. 8016). Inc.: Gorgia Leontino qui primo profiteri ausus est ... — Expl.: ... An est quod dici solet.
5 (49v–103r) Plato: Gorgias, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 1990, Nr. 1810. — Venier 2011). Tit.: Platonis Gorgias de immortalitate animorum (!) incipit faeliciter Inc.: Belli et pugne oportere aiunt o Socrates ita participem esse ... — Expl.: ... nam est nullius digna o Callicles. Platonis Gorgias explicit faeliciter.
6 (103r–104v) Aretinus Rinutius: Argumentum in Axiochus (Lockwood 1913, 103–104Bertalot 1990, Nr. 8645). Tit.: Incipit Platonis Axiochus. Reverendo in Christo patri domino A. dei gratia episcopo cavensi Rynucius felicitatem dicit. Inc.: Herodotus alicarnasseus suo historiarum opere ... — Expl.: ... cum Axiocho de morte disserentem audiamus.
7 (104v–110v) Plato: Axiochus, übersetzt von Aretinus Rinutius (Bertalot 1990, Nr. 3366). Tit.: Platonis Axiochus Inc.: Cum in Kynosarges venissem abiremque Illissum ... — Expl.: ... unde ad vos huc sum profectus. Explicit Platonis Axiochus.
8 (111r–111v) Leonardo Bruni: Argumentum in apologiam Socratis (Bertalot 2004, Nr. 22260). Tit.: Leonardi Aretini Argumentum in apologiam Socratis incipit Inc.: Socrates philosophus vir omnium innocentissimus ... — Expl.: ... victorie tamen inimica fuere.
9 (111v–128r) Plato: Apologia, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 2004, Nr. 18497). Tit.: Apologia Socratis feliciter incipit. Inc.: Quid vobis acciderit iudices ab accusatoribus meis nescio ... — Expl.: ... Utri autem vestrum in melius vadant, incertum est omnibus preter quam deo. Appologia Socratis explicit.
10 (128v–129r) Leonardo Bruni: Argumentum in librum Platonis Crito (Bertalot 1990, Nr. 4383). Tit.: Leonardi Aretini Argumentum in librum Platonis Crito incipit. Inc.: Damnato Socrate et in carcerem truso mora longior intercessit ... — Expl.: ... cognitionem disciplinamque nostram.
11 (129r–137r) Plato: Crito, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 2004, Nr. 18490). Tit.: Platonis Crito vel de eo quod agendum Inc.: Quid tu hoc temporis venisti o Crito ... — Expl.: ... quoniam hac deus agendum monstrat. Platonis Crito explicit. Die zweite, zwischen 1424 und 1427 entstandene Crito-Übersetzung von Leonardo Bruni (vgl. Berti 1983).
Der Text wird eingangs von einer großen, mit Blattgold belegten "Q"-Initiale eingeleitet, die mit Bianchi girari verziert ist. Das fast quadratische blaue Außenfeld der Initiale und die Ranken gehen ohne Unterbrechung in eine schmale, nahezu geradlinig konturierte Rankenbordüre über, die den Schriftspiegel zu drei Seiten umfasst. Die Bordüre ist im unteren Bereich der Seite breiter ausgelegt und zeigt in der Mitte einen sich nach unten verjüngenden Lorbeerkranz, in dem heute noch das Wappen des Matthias Corvinus zu sehen ist. Links und rechts vom Kranz sitzt jeweils ein Fantasievogel mit langem, geöffnetem Schnabel (die beiden Vögel sind gegengleich gemalt). Die Ranken der unteren Bordüre wachsen aus einem spitzblättrigen Blumenkelch und umfangen den Lorbeerkranz in symmetrisch angeordneten, kreisenden Schlingen. Die Ranken sind sehr fein und klar umrissen, kreisen ruhig innerhalb des Bordürenrahmens und bilden nur wenige, kleine Dreiblattformationen am Ende der Äste. Die Zwischenräume wurden in Rosa, Zartgrün und Blau ausgemalt. An den Eckpunkten der Bordüre sowie auf mittlerer Höhe sind Goldpunkte mit zartem Härchenbesatz und Fibrillen angesetzt.
Aus künstlerischer Sicht steht der Wiener Handschrift eine bisher aufgrund ihres Vorbesitzers, Federico da Montefeltro (1422–1482), nach "Mittelitalien, Urbino oder Rom" eingeordnete Handschrift in London, British Library, Burney 123 aus den 1460er Jahren am nächsten. Sicher stammt der Buchschmuck dieses Codex jedoch aus derselben florentiner Werkstatt, in der auch Cod. 2384 illuminiert wurde. Letzterer zeigt zusätzlich zwei Vögel in den Ranken des Bas-de-page, die eine sichere Zuschreibung an die Werkstatt des Francesco di Antonio del Chierico (1433–1484) zulassen, vgl. Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6310Aristoteles für König Ferdinand I von Neapel (1424–1494, ab 1458 König von Neapel), vgl. fol. 65v. Es handelt sich hierbei um ein Hauptwerk des Francesco di Antonio del Chierico aus den 1460er Jahren. Ähnliche Vogeltypen zeigt auch die Titelseite des Cod. 22. Die gestochen scharf umrissenen, zur symmetrischen Anlage neigenden Ranken sind vergleichbar München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 310 (um 1465) oder München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69 (um 1465, s. Zuordnung durch Bauer-Eberhardt 2008) und vielen anderen Codices, die im Laufe der 1460er Jahre in der äußerst produktiven Werkstatt des Francesco del Chierico illuminiert wurden. Aus der Wiener Sammlung sind beispielsweise Cod. 11 aus dem ehemaligen Besitz des Johannes Vitéz sowie auch Cod. Ser. n. 4755 aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts in Farbgebung und Rankengestaltung als besonders nahestehend zu nennen. (Zu Chierico s. Levi D’Ancona 1962, 108–116; Garzelli 1985, I, 101–164 [Francesco del Chierico], 488 [ British Library, Burney 123].)
Wie Daniel Pócs darlegen konnte, befand sich letztere Handschrift ursprünglich im Besitz des Propstes von Pécs und Erzbischofs von Kalocsa, György Handó (ca. 1430–ca. 1480), dessen Lilienwappen bei Übernahme des Codex in die königliche Bibliothek vom Ersten Budaer Wappenmaler mit dem Wappen des Königs Matthias Corvinus übermalt wurde (Pócs 2019, 513 und Fig. 3; zum Wappenmaler s. Zsupán 2022, 412–420): geviert: 1 und 4 Ungarn (acht Balken rot und silber), 2 und 3 Böhmen (gekrönter, doppelschwänziger Löwe nach links aufsteigend), im Herzschild der Rabe im blauen Feld (beschädigt). Weitere, in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre für György Handó in Florenz angekaufte Codices, deren Buchschmuck vom selben Meister ausgeführt wurden, befinden sich heute in Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. lat. 418 (Pócs 2019, Fig. 1) und in London, British Library, Lansdowne Ms. 836 (Pócs 2019, Fig. 4; The Corvina Library and the Buda Workshop 2018, 194, Kat. H5; “Az ország díszére” 2020, 372–375, Kat. H5 [Dániel Pócs]). Wie Cod. 2384 wurden auch diese beiden nach Handós Tod ebenfalls in die königliche Bibliothek integriert.
Der Codex enthält einerseits Platon-Übersetzungen von Leonardo Bruni – die Phaidon- und die Gorgias-Übersetzung (1405/5, 1409), die zweite Apologia Socratis- und die zweite Kriton-Übersetzung (1424–27) –, andererseits die Übersetzung des pseudoplatonischen Axiochus von Rinuccio Aretino (Lockwood 1913, 54).
Die Phaidon- und die Gorgias-Übersetzungen sowie die Widmung an Papst Innozenz II. zu Beginn des Bandes und Brunis darauf folgender Brief an Niccolò Niccoli (Mehus 1741, 15–17, Ep. I.VIII) wurden aus einem Codex kopiert, der einst im Besitz von Gianozzo Manetti war. Für die Phaidon-Übersetzung gehört Manettis Codex zur ersten, frühesten Schicht der Florentiner Tradition dieses Textes (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal.lat.974, Sigle V5, vgl. Berti 2010, 85, 109). Diese frühe florentinische Gruppe kann auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeführt werden, welcher entweder Brunis eigenes Exemplar oder eine daraus eilends angefertigte Kopie war. Die Widmung an Papst Innozenz II. ist in allen Handschriften dieser Gruppe zu finden, während Brunis Brief an Niccoli die Phaidon-Übersetzung in den meisten Handschriften begleitet (Berti 2010, 85).
Der Phaidon-Text der Wiener Corvine wurde aufgrund einer anderen Handschrift derselben frühen florentinischen Gruppe (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.89 sup.58, Sigle L5 bei Berti 2010) korrigiert. Als Vespasiano da Bisticcis „Werkstattexeplar” spielte dieser, in die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts zu datierende Codex eine bedeutende Rolle in der Verbreitung des Werkes in Florenz und ist die Quelle zahlreicher Handschriften geworden (vgl. Berti 2010, 84). Der Wiener Codex steht mit L5 aber nicht nur durch die Phaidon-Korrekturen in Beziehung. Die darin enthaltenen Apologia- und die Kriton-Übersetzungen darin wurden aus demselben Antigraph abgeschrieben wie in zwei anderen Handschriften, in welchen die Phaidon- und Gorgias-Übersetzung aber vom L5 stammen (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb.lat.1314, Sigle V6; Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6568, Sigle P3, s. noch Berti 1983, 192–193). Die letzten zwei Codices sind von Gherardo del Ciriagio für Vespasiano da Bisticci im Auftrag von Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino (V6) und vom königlichen Haus von Aragon (P3) im Jahre 1472 kopiert (Berti 2010, 112–114).
Die bisherigen textkritischen Forschungen zeigen zweifelsfrei, dass die Wiener Handschrift im Umfeld von Vespasiano da Bisticci entstand (s. Text).
Durch die textkritischen Vorarbeiten ist es möglich, die Entstehungszeit der Corvine auf die späten 1460er Jahre bzw. um 1470 einzuengen. Darauf weisen die folgenden Indizien hin: (1.) Der Schreiber ist vor allem in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre und in den 1470er nachweisbar (vgl. de la Mare 1985, 552–553). (2.) Bevor der Wiener Codex in die Bibliotheca Corvina gelangte, war er im Besitz von György Handó (s. sein Wappen unter dem Wappen von Matthias Corvinus). Die große Buchbestellung von György Handó bei Vespasiano da Bisticci, im Rahmen derer wohl auch der Wiener Codex entstand, fand aller Wahrscheinlichkeit nach in den späten 1460er Jahren statt (Pócs 2019). (3.) Ebenfalls auf diese Zeit deutet die Tatsache hin, dass zwei weitere Codices, in denen die Apologia- und die Kriton-Übersetzungen aus derselben Vorlage stammen wie im Wiener Codex, im Jahre 1472 entstanden (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb.lat.1314, Sigle V6; Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6568, Sigle P3 – beide kopiert von Gherardo del Ciriagio für Vespasiano da Bisticci). All dies macht also sehr wahrscheinlich, dass der heute in Wien aufbewahrte Codex in den späten 1460er Jahren bzw. um 1470 angefertigt worden war.
Perg. II+140+II* Bl. 260×172.
Text: Florenz, um 1470
Buchschmuck: Florenz
Pergament italienischer Bearbeitung. Ränder in der ersten Lage verbräunt. — Reparaturen von Löcher fol. 137, Vor- und Nachsatzblätter. — Der Codex ist überwiegend aus regelmäßigen Quinionen zusammengestellt. Lagenformel: III + 14.V137 + III*. Als Vor- und Nachsatz je ein Doppelblatt, dessen eine Hälfte früher als Vorder- bzw. Hinterspiegel fungierte. Reklamanten von Textschreiber auf der letzten Lagenseite in der rechten unteren Ecke horizontal geschrieben. — Neuzeitliche Bleistiftfoliierung in der rechten oberen Ecke zählt fol. 103 und fol. 119 doppelt (foliiert als fol. 103* und fol. 119a); ein Blatt zwischen fol. 136 und fol. 137 übersprungen und bei der Bearbeitung 2020 neu foliiert (fol. 136a). Neue Foliierung in der linken unteren Ecke auf der Verso-Seite auf fol. 103–128. Die Vor- und Nachsatzblätter bei der Bearbeitung 2020 als fol. I–II bzw. fol. I*–II* foliiert.
170×98 mm, 1 Spalte zu 30 Zeilen. Bleistiftlinierung: Vertikale doppelte Begrenzungslinien (Abstand 7 mm) bis zum Blattrand gezogen; die Zeilenlinierung zwischen den inneren vertikalen Begrenzungen gezogen (Derolez Typ 31; Muzerelle, Mastara, formula 2-2/0/0/J). Zwei Einstichlöcher am Innenrand, ein Einstichloch am Außenrand unten. Vertikale Begrenzungen beginnen auf Recto häufig unter dem oberen Blattrand und enden auf Verso vor dem unteren Blattrand, was auf eine Linierung mittels Rake Rostrum hindeutet. Die oberste Horizontallinie als erste Schreibzeile verwendet. — Humanistica Textualis von der Hand des “scribe of Venezia, Bibl. Marciana lat. Z. 58” (vgl. de la Mare 1985, 552, Nr. 103:13). Vom selben Schreiber stammt auch ein anderer Codex in György Handós Bibliothek: olim New York, Marston Collection, Ms. 54 (heute Privatbesitz), (vgl. de la Mare 1985, 552, Nr. 103:14; Pócs 2019, 559, Nr. 20). Inhaltsverzeichnis wohl von Bartolomeo Fonzios Hand (in Handschriften dieses Schreibers kommt Fonzios Hand oft vor, wie auch in olim New York, Marston Collection, Ms. 54). Marginal glossiert vom Schreiber, dem Korrektor (die meisten Korrekturen, Auslassungen/omissions)und von Johannes Gremper (fol. 2r–v, 3r, 4v in Rot, 5r–v, 6r, 7r–v in Rot, 8r in Rot, 11r–v in Rot, 22r; 131r Lesenotizen, meistens in Rot, vgl. Geschichte). — Auf fol. II*r von einer zeitgenössischen Hand Liber Phedri Platonis per Leonardum Aretinum traductus.
Werkstatt des Francesco di Antonio del Chierico, Florenz. Rubriziert. Einleitend Bianchi girari-Bordüren, die den Schriftspiegel an drei Seiten begleiten, mit etwas Goldtropfen- und Fleuronnée-Besatz. Die 9-zeilige vergoldete Initiale Q(ui) zu Beginn des Textes ist ornamental mit den Bordüren verbunden. Im Bas-de-page zwei Vögel, die das in den 1480er Jahren vom Ersten Wappenmaler in Buda eingemalte Wappen des Königs Matthias Corvinus flankieren (Übermalung des Wappens György Handó). Danach weitere fünf Bianchi girari-Initialen, jeweils 6 Zeilen hoch.
1r | Bianchi girari-Bordüren zu drei Seiten des Schriftspiegels. Im Bas-de-page das Wappen des Königs Matthias Corvinus über dem Wappen des Erzbischofs György Handó im Lorbeerkranz. Q[ui]-Initiale, 9-zeilig, vergoldet, Bianchi girari in Verbindung mit der Rahmenbordüre |
3v | I[pse]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
104v | H[ erodotus]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
111r | S[ ocrates]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
128v | D[amnato]-Initiale, 6-zeilig, vergoldet, Bianchi girari |
272×177×35 mm. Roter Maroquineinband über Buchenholzdeckeln – mit nach innen abgeschrägten Deckelkanten – mit einzelnen Blindstempeln und Handvergoldung. VD und HD sind gleich, am HD oben ist die Aufschrift in goldenen Majuskeln zu lesen: PHEDRVS PLATONIS. Im ersten Rahmen reihen sich vergoldete und blaue Doppelkreisplättchen (Lederauflage), aus denen sieben in den Mitten der Seiten gruppiert sind. Der zweite Rahmen ist mit blindgedrucktem Flechtwerk aus gekerbten winzigen Stempeln (Stäbchen) verziert, dazwischen farbige Kreispunzen; der Rahmen an den Schmalseiten wesentlich breiter. Das Mittelfeld ist von einer Reihe vergoldeter Tulpen umrahmt, in der Mitte der Seiten je eine kleine Rosette. Dieser Rahmen bildet an den Ecken Ausbuchtungen und in diesen vier Eckzwickeln sind verschiedene Tulpen, Blätter und Stiele. Dieser Rahmen ist von innen mit einer Reihe von kleineren blauen Kreisplättchen flankiert, an den Langseiten sind aus Doppelkreisplättchen gebildete Dreiecke. In der Mitte des Mittelfeldes ist ein betontes, orientalisches Mittelstück mit Ein- und Ausbuchtungen, das von drei Rahmen begrenzt ist. In dem ersten und dritten Rahmen Doppelkreisplättchen, im zweiten Rahmen, dessen Mittelstrecke mit je einer Rosette unterbrochen ist, reihen sich neuere Tulpen. Im Zentrum das königliche Wappen von Matthias mit Krone und umgeben von Kelchblumen, verschiedenen Tulpen, Blättern und Stielen. Spuren von vier Verschlussbändern, ursprünglich aus Textil. Am Rücken vier Doppelbünde, die Rückenfelder sind mit Diagonallinien gegliedert und mit Rosetten gefüllt. Ziselierter Goldschnitt. Das Kapital ist restauriert und ledergedeckt. Oben am HD ist das Kettenloch sichtbar. VD Spiegel aus Papier: Exlibris von Johannes Alexander Brassicanus und Johannes Fabri. Pergament Vorsatzblätter, vorne handschriftliche Eintragungen: Sum Ioannis Alexandri //.Brassicani philosophi //. ac jureconsulti. Der Einband wurde zwischen etwa 1485–1490 von einem italienischer Meister in der königlichen Buchbinderwerkstatt in Buda angefertigt (s. Mazal 1970, Nr. 86).
Tabulae codicum II, 66. — Hoffmann/Wehli 1929/1992, 99, Nr. 38. — Hermann 1932, 27–28, Nr. 20. — Mazal 1964, 361–362. — Csapodi 1973, 319, Nr. 507. — Bibliotheca Corviniana 1990, 60, Nr. 192. — Matthias Corvinus 1994, 75, Kat. 35 (Ernst Gamillscheg). — Madas 2009, 59, Nr. 97. — Pócs 2016, 335, Nr. 19. — Pócs 2019, Nr. 18.
0 (Iv) Inhaltsverzeichnis.
1 (1r–2r) Leonardo Bruni: Prologus ad Innocentium Papam VII. (Baron 1969, 3–4. — Bertalot 2004, Nr. 18042). Tit.: Leonardi Aretini prefatio in Phedrum (!) Platonis Inc.: Qui laudant sanctitatem tuam beatissime pater ... — Expl.: ... Sed iam satis ad interpretationem ipsam accedamus.
2 (2r–3v) Leonardo Bruni: Brief an Niccolò Niccoli (Mehus 1741, 15–17, Ep. I. VIII). Inc.: Et si ego mi Nicolae prius quoque vehementer amabam ... — Expl.: ... eamque ut Coluccius videat curabis. Vale.
3 (3v–49r) Plato: Phaedo, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 1990, Nr. 10072). Tit.: Platonis Phaedon de immortalitate animorum incipit lege faeliciter (!) Inc.: Ipse affuisti o Phedon ea die qua Socrates venenum bibit ... — Expl.: ... et preterea sapientissimi atque iustissimi. Platonis Phedon de immortalitate animorum explicit faeliciter.
4 (49v) Leonardo Bruni: Argumentum in Gorgia (Bertalot 1990, Nr. 8016). Inc.: Gorgia Leontino qui primo profiteri ausus est ... — Expl.: ... An est quod dici solet.
5 (49v–103r) Plato: Gorgias, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 1990, Nr. 1810. — Venier 2011). Tit.: Platonis Gorgias de immortalitate animorum (!) incipit faeliciter Inc.: Belli et pugne oportere aiunt o Socrates ita participem esse ... — Expl.: ... nam est nullius digna o Callicles. Platonis Gorgias explicit faeliciter.
6 (103r–104v) Aretinus Rinutius: Argumentum in Axiochus (Lockwood 1913, 103–104Bertalot 1990, Nr. 8645). Tit.: Incipit Platonis Axiochus. Reverendo in Christo patri domino A. dei gratia episcopo cavensi Rynucius felicitatem dicit. Inc.: Herodotus alicarnasseus suo historiarum opere ... — Expl.: ... cum Axiocho de morte disserentem audiamus.
7 (104v–110v) Plato: Axiochus, übersetzt von Aretinus Rinutius (Bertalot 1990, Nr. 3366). Tit.: Platonis Axiochus Inc.: Cum in Kynosarges venissem abiremque Illissum ... — Expl.: ... unde ad vos huc sum profectus. Explicit Platonis Axiochus.
8 (111r–111v) Leonardo Bruni: Argumentum in apologiam Socratis (Bertalot 2004, Nr. 22260). Tit.: Leonardi Aretini Argumentum in apologiam Socratis incipit Inc.: Socrates philosophus vir omnium innocentissimus ... — Expl.: ... victorie tamen inimica fuere.
9 (111v–128r) Plato: Apologia, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 2004, Nr. 18497). Tit.: Apologia Socratis feliciter incipit. Inc.: Quid vobis acciderit iudices ab accusatoribus meis nescio ... — Expl.: ... Utri autem vestrum in melius vadant, incertum est omnibus preter quam deo. Appologia Socratis explicit.
10 (128v–129r) Leonardo Bruni: Argumentum in librum Platonis Crito (Bertalot 1990, Nr. 4383). Tit.: Leonardi Aretini Argumentum in librum Platonis Crito incipit. Inc.: Damnato Socrate et in carcerem truso mora longior intercessit ... — Expl.: ... cognitionem disciplinamque nostram.
11 (129r–137r) Plato: Crito, übersetzt von Leonardo Bruni (Bertalot 2004, Nr. 18490). Tit.: Platonis Crito vel de eo quod agendum Inc.: Quid tu hoc temporis venisti o Crito ... — Expl.: ... quoniam hac deus agendum monstrat. Platonis Crito explicit. Die zweite, zwischen 1424 und 1427 entstandene Crito-Übersetzung von Leonardo Bruni (vgl. Berti 1983).
Der Text wird eingangs von einer großen, mit Blattgold belegten "Q"-Initiale eingeleitet, die mit Bianchi girari verziert ist. Das fast quadratische blaue Außenfeld der Initiale und die Ranken gehen ohne Unterbrechung in eine schmale, nahezu geradlinig konturierte Rankenbordüre über, die den Schriftspiegel zu drei Seiten umfasst. Die Bordüre ist im unteren Bereich der Seite breiter ausgelegt und zeigt in der Mitte einen sich nach unten verjüngenden Lorbeerkranz, in dem heute noch das Wappen des Matthias Corvinus zu sehen ist. Links und rechts vom Kranz sitzt jeweils ein Fantasievogel mit langem, geöffnetem Schnabel (die beiden Vögel sind gegengleich gemalt). Die Ranken der unteren Bordüre wachsen aus einem spitzblättrigen Blumenkelch und umfangen den Lorbeerkranz in symmetrisch angeordneten, kreisenden Schlingen. Die Ranken sind sehr fein und klar umrissen, kreisen ruhig innerhalb des Bordürenrahmens und bilden nur wenige, kleine Dreiblattformationen am Ende der Äste. Die Zwischenräume wurden in Rosa, Zartgrün und Blau ausgemalt. An den Eckpunkten der Bordüre sowie auf mittlerer Höhe sind Goldpunkte mit zartem Härchenbesatz und Fibrillen angesetzt.
Aus künstlerischer Sicht steht der Wiener Handschrift eine bisher aufgrund ihres Vorbesitzers, Federico da Montefeltro (1422–1482), nach "Mittelitalien, Urbino oder Rom" eingeordnete Handschrift in London, British Library, Burney 123 aus den 1460er Jahren am nächsten. Sicher stammt der Buchschmuck dieses Codex jedoch aus derselben florentiner Werkstatt, in der auch Cod. 2384 illuminiert wurde. Letzterer zeigt zusätzlich zwei Vögel in den Ranken des Bas-de-page, die eine sichere Zuschreibung an die Werkstatt des Francesco di Antonio del Chierico (1433–1484) zulassen, vgl. Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6310Aristoteles für König Ferdinand I von Neapel (1424–1494, ab 1458 König von Neapel), vgl. fol. 65v. Es handelt sich hierbei um ein Hauptwerk des Francesco di Antonio del Chierico aus den 1460er Jahren. Ähnliche Vogeltypen zeigt auch die Titelseite des Cod. 22. Die gestochen scharf umrissenen, zur symmetrischen Anlage neigenden Ranken sind vergleichbar München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 310 (um 1465) oder München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69 (um 1465, s. Zuordnung durch Bauer-Eberhardt 2008) und vielen anderen Codices, die im Laufe der 1460er Jahre in der äußerst produktiven Werkstatt des Francesco del Chierico illuminiert wurden. Aus der Wiener Sammlung sind beispielsweise Cod. 11 aus dem ehemaligen Besitz des Johannes Vitéz sowie auch Cod. Ser. n. 4755 aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts in Farbgebung und Rankengestaltung als besonders nahestehend zu nennen. (Zu Chierico s. Levi D’Ancona 1962, 108–116; Garzelli 1985, I, 101–164 [Francesco del Chierico], 488 [ British Library, Burney 123].)
Wie Daniel Pócs darlegen konnte, befand sich letztere Handschrift ursprünglich im Besitz des Propstes von Pécs und Erzbischofs von Kalocsa, György Handó (ca. 1430–ca. 1480), dessen Lilienwappen bei Übernahme des Codex in die königliche Bibliothek vom Ersten Budaer Wappenmaler mit dem Wappen des Königs Matthias Corvinus übermalt wurde (Pócs 2019, 513 und Fig. 3; zum Wappenmaler s. Zsupán 2022, 412–420): geviert: 1 und 4 Ungarn (acht Balken rot und silber), 2 und 3 Böhmen (gekrönter, doppelschwänziger Löwe nach links aufsteigend), im Herzschild der Rabe im blauen Feld (beschädigt). Weitere, in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre für György Handó in Florenz angekaufte Codices, deren Buchschmuck vom selben Meister ausgeführt wurden, befinden sich heute in Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. lat. 418 (Pócs 2019, Fig. 1) und in London, British Library, Lansdowne Ms. 836 (Pócs 2019, Fig. 4; The Corvina Library and the Buda Workshop 2018, 194, Kat. H5; “Az ország díszére” 2020, 372–375, Kat. H5 [Dániel Pócs]). Wie Cod. 2384 wurden auch diese beiden nach Handós Tod ebenfalls in die königliche Bibliothek integriert.
Der Codex enthält einerseits Platon-Übersetzungen von Leonardo Bruni – die Phaidon- und die Gorgias-Übersetzung (1405/5, 1409), die zweite Apologia Socratis- und die zweite Kriton-Übersetzung (1424–27) –, andererseits die Übersetzung des pseudoplatonischen Axiochus von Rinuccio Aretino (Lockwood 1913, 54).
Die Phaidon- und die Gorgias-Übersetzungen sowie die Widmung an Papst Innozenz II. zu Beginn des Bandes und Brunis darauf folgender Brief an Niccolò Niccoli (Mehus 1741, 15–17, Ep. I.VIII) wurden aus einem Codex kopiert, der einst im Besitz von Gianozzo Manetti war. Für die Phaidon-Übersetzung gehört Manettis Codex zur ersten, frühesten Schicht der Florentiner Tradition dieses Textes (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal.lat.974, Sigle V5, vgl. Berti 2010, 85, 109). Diese frühe florentinische Gruppe kann auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeführt werden, welcher entweder Brunis eigenes Exemplar oder eine daraus eilends angefertigte Kopie war. Die Widmung an Papst Innozenz II. ist in allen Handschriften dieser Gruppe zu finden, während Brunis Brief an Niccoli die Phaidon-Übersetzung in den meisten Handschriften begleitet (Berti 2010, 85).
Der Phaidon-Text der Wiener Corvine wurde aufgrund einer anderen Handschrift derselben frühen florentinischen Gruppe (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.89 sup.58, Sigle L5 bei Berti 2010) korrigiert. Als Vespasiano da Bisticcis „Werkstattexeplar” spielte dieser, in die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts zu datierende Codex eine bedeutende Rolle in der Verbreitung des Werkes in Florenz und ist die Quelle zahlreicher Handschriften geworden (vgl. Berti 2010, 84). Der Wiener Codex steht mit L5 aber nicht nur durch die Phaidon-Korrekturen in Beziehung. Die darin enthaltenen Apologia- und die Kriton-Übersetzungen darin wurden aus demselben Antigraph abgeschrieben wie in zwei anderen Handschriften, in welchen die Phaidon- und Gorgias-Übersetzung aber vom L5 stammen (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb.lat.1314, Sigle V6; Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6568, Sigle P3, s. noch Berti 1983, 192–193). Die letzten zwei Codices sind von Gherardo del Ciriagio für Vespasiano da Bisticci im Auftrag von Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino (V6) und vom königlichen Haus von Aragon (P3) im Jahre 1472 kopiert (Berti 2010, 112–114).
Die bisherigen textkritischen Forschungen zeigen zweifelsfrei, dass die Wiener Handschrift im Umfeld von Vespasiano da Bisticci entstand (s. Text).
Durch die textkritischen Vorarbeiten ist es möglich, die Entstehungszeit der Corvine auf die späten 1460er Jahre bzw. um 1470 einzuengen. Darauf weisen die folgenden Indizien hin: (1.) Der Schreiber ist vor allem in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre und in den 1470er nachweisbar (vgl. de la Mare 1985, 552–553). (2.) Bevor der Wiener Codex in die Bibliotheca Corvina gelangte, war er im Besitz von György Handó (s. sein Wappen unter dem Wappen von Matthias Corvinus). Die große Buchbestellung von György Handó bei Vespasiano da Bisticci, im Rahmen derer wohl auch der Wiener Codex entstand, fand aller Wahrscheinlichkeit nach in den späten 1460er Jahren statt (Pócs 2019). (3.) Ebenfalls auf diese Zeit deutet die Tatsache hin, dass zwei weitere Codices, in denen die Apologia- und die Kriton-Übersetzungen aus derselben Vorlage stammen wie im Wiener Codex, im Jahre 1472 entstanden (Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb.lat.1314, Sigle V6; Paris, Bibliothèque nationale de France, Latin 6568, Sigle P3 – beide kopiert von Gherardo del Ciriagio für Vespasiano da Bisticci). All dies macht also sehr wahrscheinlich, dass der heute in Wien aufbewahrte Codex in den späten 1460er Jahren bzw. um 1470 angefertigt worden war.
Die Wiener Corvinen. Beschreibung von Wien, ÖNB, Cod. 2384. Version 0.1, 8.5.2025. URL: https://digi-doc.onb.ac.at/fedora/objects/o:crv.cod-2384/methods/sdef:TEI/get
Verantwortlich für die BeschreibungIvana Dobcheva (Kodikologie), Katharina Kaska (Kodikologie), Marianne Rozsondai (Einband), Friedrich Simader (Geschichte), Maria Theisen (Buchschmuck), Edina Zsupán (Texterschließung, Literaturerfassung)
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