Beschreibung und Einordnung des BuchschmucksFleuronnéeAlle Bianchi girari-Verzierungen dieser Handschrift wurden mit
Fleuronnée-Dekor von sehr hoher künstlerischer Qualität versehen. Das Fleuronnée
ist entweder in kurzen, sich volutenförmig einrollenden Einzelfäden, meist
jedoch in Bündeln von mehreren, locker nach links und rechts ausschwingenden
Fäden direkt an die blaue Außenkontur der Weißrankenfelder angesetzt. Der
mittlere Faden trägt stets einen blattförmig bewimperten Goldtropfen, aus dem
wiederum ein längerer, von kleinen Querstricheln akzentuierter Faden (daraus
evtl. wieder ein Goldtropfen) wächst. Die Fadenenden sind eingerollt, deren
Abschluss mit Querstricheln oder Kreuzchen, immer jedoch mit einem Punkt
markiert. Die feinen Bouquets aus Fäden und bewimperten Goldtropfen werden von
Ringen, Fibrillen und schwungvoll gezeichneten kleinen Stern- oder Rautenmotiven
mit Häkchen begleitet.
Dekor der AnfangsseiteDer Schriftspiegel wird zu drei Seiten fortlaufend von
Bianchi girari Bordüren begleitet, wobei das Bordürenband im Bas-de-page
zusätzlich Fleuronnée-Besatz (duftige Bouquets aus Fäden mit grünen Blättchen,
kleinen rosa Blütenkelchen und bewimperten Goldtropfen) aufweist sowie auch
breiter angelegt ist als links und im Kopfbereich der Seite. Dort endet die
Bordüre in einer Agave-artigen Formation aus spitzen Blättern. Eine goldene
Doppelleiste, an den Enden und in der Mitte des Bas-de-page zu Medaillons
geformt, dient als inneres Gerüst der Bordüre, deren Weißranken sich nahezu ohne
Unterbrechung in kreisender Spiralen- und Herzform um die Goldleisten winden. In
die beiden kleineren Medaillons sind sehr fein gemalte, golden beschriftete
Profilportraits von Faustina und Alcibi[ades] vor blauem Hintergrund eingefügt.
Das große Medaillon mit Lorbeerkranz und dem für eine spätere Ausmalung
vorbereiteten, leeren Wappenschild in der Mitte des Bas-de-page ruht auf einem
großen, breitlappigen Weißblatt. Die Bianchi girari setzen im Bas-de-page an der
goldenen Doppelleiste, jeweils links und rechts des zentralen Medaillons, sowie
an der Vase im unteren Bereich des linken Bordürenbandes an. Danach wird der
Lauf der Ranken noch zweimal mittels Einschubs größerer Blattkelche akzentuiert.
Alle Blätter und Ranken sind mit ockergelber Lavierung zart modelliert. Das
ebenfalls mit Bianchi girari ornamentierte Außenfeld der einleitenden S-Initiale
ist unmittelbar mit der Bordüre verbunden. Die Bordüren sind zudem von Figuren
bevölkert: Zwei Putten halten den Lorbeerkranz im Bas-de-page, ein weiterer
sitzt auf einem liegenden Reh, ein anderer auf einer der goldenen Leisten. Zwei
Putten im oberen Bereich der Bordüre scheinen die Zweige an der Goldleiste zu
befestigen. Ferner sitzen vier Vögel, ein Widder und ein großer Hase in den
Ranken. Hermann Julius Hermann hatte
die Buchmalereien mit Blick auf Cod. 19 und Cod. 22 der Österreichischen
Nationalbibliothek grob „der Richtung des Francesco d’Antonio del
Cherico nahestehend“ zugeordnet und den Codex in die Zeit um 1470
datiert (Hermann 1932 , 63). Mittlerweile
kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, dass die Illuminationen des Cod. 23
einem Florentiner Zeitgenossen Francescos,
und zwar Mariano del Buono
(1433–1504) zuzuschreiben sind (Dillon Bussi
2002 , 108; Madas 2009 , 60 - zu
Mariano allgemein: Garzelli I, 1985 , 190–215
(Werkverzeichnis); Galizi 2004 ). Vergleiche
mit dessen Hauptwerk, den beiden Bänden einer Livius -Prachtausgabe für
Johannes Vitéz aus der Zeit um
1469/70, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich hier um das Werk Marianos handelt (Münchener Clm
15731 und Clm 15733;
Clm 15732
illuminierte der etwas jüngere Ser Riccardo
di Nanni ). Charakteristisch sind schlanke, sich nur unmerklich
verjüngende Rankenschlingen mit Tendenz zu symmetrisch aufgebauten Formen. Die
Zweige enden in untersichtig gezeigten, rundblättrigen Blüten, die meistens mit
einem breiten Verbindungsring an die Stängel angesetzt wurden. Im Bestreben, die
Bordüre möglichst dicht zu füllen, entwickelte der Illuminator außerdem
längliche, gekerbte Blattformen (meistens dreieckig, manchmal auch Blattkämme),
die das Rankenband nach außen hin begrenzen: ein Merkmal, das die Arbeiten
seiner Werkstatt deutlich von jenen des Francesco di Antonio del Chierico
unterscheidet. Zudem verwendete er sehr häufig Fruchtmotive und herzförmige
Blättchen als Zwickelfüllungen. Die verbleibenden Zwischenräume dieses dichten
Rankengewebes wurden in den Farben Rosa, Grün und Blau bemalt sowie das gesamte
Rankenwerk blau eingefasst und mit weißen (gelegentlich auch gelben) Drei- und
Vierpunktgruppen akzentuiert. Abgesehen von den verwendeten Vorlagen spricht
auch die skizzenhafte Binnenmodellierung der Putten mit nur wenigen Schraffen,
Punktaugen und kleinen Stricheln unter Nase und Lippen für eine Ausführung durch
Mariano del Buono . Die
Modellierung der Putten erfolgte hauptsächlich durch leichte, fleckige
Farblavierung, die den Zeichnungen Sfumato-Effekt verleiht, vergleiche auch den
Aulus Gellius Codex aus der Chetham’s School of Music in Manchester (Cod. No. 27900) des Königs Matthias Corvinus (der Codex war von Francesco Sassetti , dem gescheiterten
Finanzmanager der Medici, an den ungarischen König verkauft worden). Ein
besonderes Merkmal ist außerdem die stumpfe braune Farbe des Fells von Hase und
Reh – dieselbe Farbmischung findet sich auch in anderen Arbeiten seiner
Werkstatt, vgl. etwa die Tiere in den Bordüren der Münchener Clm
15731 und Clm 15733,
die ebenfalls aus der Bibliothek des Johannes
Vitéz stammen (Bauer-Eberhardt 2014 , Abb. 377, 378, 384). Die für die Werkstatt
typischen gekerbten, länglichen Blattformen bzw. Blattkämme könnte Mariano aus jenen des älteren
Florentiner Meisters Bartolomeo
Varnucci (1410–1479) weiterentwickelt haben, der im Jahr 1471 als
Bürge für Mariano aufscheint
(Dillon Bussi 2002 , 106). Levi D’Ancona hatte in Erwägung gezogen, in
Varnucci den Lehrer
Marianos zu sehen;
schriftliche Quellen über seine Ausbildung sind jedoch nicht erhalten (s. Levi D’Ancona 1962 , 176). Die Bestimmung
des Cod. 23 als eigenhändiges Werk Marianos wird jedoch nicht nur hinsichtlich der Blatt- und
Rankenformen seiner Bianchi girari, sondern auch hinsichtlich des meist weniger
beachteten Fleuronnée-Stils unterstützt, der ebenfalls exakt mit den für ihn
gesicherten Werken übereinstimmt. Aus seinem Atelier gingen auch die Wiener
Corvinen Cod. Ser. n. 12758,
Cod. 438 und Cod. 224 hervor. Nicht selten
arbeitete Mariano für größere Aufträge mit anderen Florentiner Buchmalern zusammen, was zu gegenseitigen
Inspirationen führte. Gemeinsam mit Francesco di Antonio del
Chierico (1433–1484) illuminierte er um 1470 bspw. eine De
Civitate Dei-Handschrift für Iñigo
d'Avalos , General im Dienst der Könige von Neapel (
London, British Library, Add MS 15246; Alexander
1994 , 150) Auch Cod. 23 illuminierte er nicht ganz alleine. Im
Gegensatz zu Marianos Stil steht
hier die Ausführung der beiden kleinen Medaillons mit den Profilbildern von
Faustina und Alcibiades. Diese sind nicht lavierend, sondern in Deckfarben ohne
Sfumato-Effekt kräftig aufgetragen. Zwar repräsentieren sie grundsätzlich eine
andere Realitätsstufe als das Rankenwerk und seine Bewohner, dennoch ist im
Vergleich mit Werken, die zur Gänze von Mariano illuminiert wurden, zu konstatieren, dass auch deren
Medaillonbildchen wesentlich zarter ausgeführt sind. Seine weiter oben
beschriebene Figurentypik behielt er darin stets bei (vgl. beispielsweise die
Titelseite des ÖNB, Cod. 717, Hermann 1932 , Taf.
XIV). Die beiden Medaillons in Cod. 23 mit ihren kompakt geformten,
präzise gezeichneten und überzeugend rundplastisch modellierten Portraitbüsen
vor schwarzblauem Grund sind deutlich von anderem Charakter und es darf mit
Edina Zsupán gefragt werden, ob diese beiden von einem zweiten Meister noch in
Florenz oder bereits
in Buda eingemalt wurden
(wir danken unserer Kollegin für diesen Hinweis; zur Budaer Werkstatt in den
späten 1480er Jahren s. Zsupán, in Földesi et al.
2018 , 64–69, 98–101, 230–233; Zsupán, in Theisen-Morzé 2021 , 30–32, 400–403, 412–420; Zsupán, in Zöhl et al. 2021 ). Insbesondere das graue
Inkarnat in Kombination mit kräftigen Rot-, Gelb- und Grüntönen erinnert an die
Palette des Mailänders Francesco da
Castello (ca. 1447–1507) bzw. des Cassianus-Meisters gegen Ende der 1480er
Jahre, wenngleich die Figurentypik von Faustina und Alcibiades – für die sich
der Illuminator auch aus zeitgenössischen graphischen Werken, wie z.B. jenen des
Florentiner Meisters der Wiener
Passion (aktiv um 1480), Inspiration geholt haben könnte – eine
gänzlich andere ist. Dem Meister der Medaillonbildchen von Cod. 23 konnte bisher
noch kein weiteres Werk zugeschrieben werden, sodass sich eine Budaer Entstehung
derzeit nicht konkret belegen lässt. Auch die Frage, warum diese eingefügt
wurden, nicht aber das Wappen, muss noch offen bleiben.
TextüberlieferungDie Handschrift enthält 22 Vitae, darunter die von Donato Acciaioli verfasste Hannibal-
und Scipio-Vita. Die Testzusammenstellung scheint auf Donato Acciaioli (1429–1478) und seinen
Kreis ausgerichtet zu sein: Die Handschrift beginnt mit der von Acciaioli übersetzten und Piero de’ Medici gewidmeten
Alcibiades-Vita und endet mit seinen im Geist der Plutarch-Imitation
entstandenen und 1467 fertig gestellten Hannibal- und Scipio-Viten und folgt
damit offensichtlich einer bewussten Komposition. Zu Beginn des Codex bilden die
Werke von Acciaioli – Widmung,
Übersetzung der Alcibiades-Vita und Comparatio zwischen Alcibiades und
Coriolanus – eine kompakte Einheit, was eine unregelmäßige und auf Acciaioli ausgerichtete Anordnung ist.
Erst danach steht die Coriolanus-Vita in der Übersetzung von Guarino Veroneses . Einen Hinweis auf den
Acciaioli-Kreis gibt auch der Schreiber Ser Agnolo di Jacopo de’ Dinuzi di San
Gimignano , der, wie sein Oeuvre, darunter mehreren
Acciaioli-Werke, zeigt, mit Acciaioli in Verbindung stand. (Vgl. De la Mare 1985 , 432–433 und 479–481, App. I, Nr.
1) Auch eine weitere von ihm kopierte Vitae-Handschrift, Paris, Bibliothèque nationale de France,
Latin 5832, beginnt mit einer von Acciaioli übersetzten Vita (Vita Demetrii), gewidmet wieder an
Piero de’ Medici . Aufgrund der
Entwicklungsstandes der Schreiberhand könnte die Pariser Handschrift zu einer
ähnlicher Zeit wie Cod. 23 entstanden sein. $$Paris, Bibliothèque nationale de France,
Latin 5830 Buchschmuck?
Zusammenstellung? https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc64822k, keine
Bilder$$). Ein weiteres Merkmal der Zusammenstellung ist die Gruppierung der von
Alamanno Rinuccini
übersetzten Vitae (Nikias, Crassus, Agis et Cleomenes, Nr. 19–24). Ihre Nähe zu
einer “Autorenversion” seiner, an Piero de’
Medici gewidmeten Übersetzungen wird auch durch die nur in Cod.
23 überlieferten, detaillierten Kolophone bezeugt. Sie enthalten genaue
Informationen über die Fertigstellung, die Kuriere und die Übergabe an Piero de’ Medici und liefern so eine
sichere Datierung der Übersetzungen der Nikias-, Crassus-, Agis- und
Cleomenes-Übersetzungen (24. 12. 1455, 17 Uhr; 4. 10. 1455, 18 ½ Uhr; 11. 9.
1458) (vgl. Giustiniani 1961, 28, Anm. 3; 33, Anm. 1) Das letzte Element des
Rinuccini-Korpus, die Agesilaos-Vita, übersetzt 1462 und ebenfalls gewidmet an
Lorenzo di Piero de’
Medici $$KK:welcher ist das? Il magnifico?$, fehlt jedoch in
diesem Band. Dazu s. Codex El Escorial, O-II-8 unten.)
Alamanno Rinuccini gehörte
zum Kreis des Donato Acciaioli ,
er und Donato waren eng befreundet (vgl. $$D’Addario 1960$$). Marianne Pade behandelt sowohl die
Rinuccini-Übersetzungen, als auch die Acciaioli-Übersetzungen als
zusammengehörende Phänomene des sog. Florentiner „civic humanism” unter den
Medici (Pade 2007 , I, 331–342). Nicht nur über
den Schreiber, sondern auch inhaltlich hängt ein Codex der Real Biblioteca del
Monasterio de San Lorenzo de El Escorial (Signatur: O. II
8) mit Cod. 23 eng zusammen. Sie ergänzen sich und machen – mit
gewissen Auslassungen (Lycurgos-Numa, Solon-Publicola, Aristeides-Cato,
Timoleon-Paulus Aemilius, Kimon-Lucullus) – den Hauptkern des Vitenkorpus,
eigentlich die gesamte Sammlung aus. $$KK: das verstehe ich nicht: Es ist
ebenfalls bemerkenswert, dass die zwei Handschriften untereinander einer
gewissen Chronologie folgen. Im Cod. 23 befinden sich nämlich im Prinzip Viten,
die ungefähr die ersten zwei Drittel des im editio princeps (1470, Rom,
Giovanni Antonio Campano bei Ulrich Han, GW M34472, ISTC ipoo83oooo )
fixierten Vitencorpus bilden – hier werden die Tituli, nicht die genauen
textlichen Übereinstimmungen gemeint –, aber nicht in der da angewendeten, der
Chronologie der römischen Personen entsprechenden Reihenfolge, sondern in einer
neugeordneten Form (s. die Acciaioli-Rinuccini-Prägung)$$. Der Codex der El
Escorial enthält ungefähr das letzte Drittel des Inhaltes der editio princeps,
ebenfalls in einer neugeordneten Form, die hiermit den Alexandros- und
Caesar-Viten beginnt (Typ der Zusammenstellung „Herrscherspiegel”, vgl. Pade, 2007, $$ ). Als eine Abweichung von der
Editio Princeps, befinden sich die Sertorius- und Eumenes-, sowie die Galba- und
Otho-Viten, die normalerweise der in der Editio princeps fixierten
chronologischen Reihenfolge entsprechend zum letzten Drittel gehören, in Cod. 23
statt in der Escorial-Handschrift. Die Tatsache, dass dieselbe Viten im Codex O-II-8 fehlen, weist auf einen engen Zusammenhang
zwischen den zwei Handschriften hin. Die einzige Überlappung zwischen den
Handschriften ist das von Alamanno
Rinuccini übersetzten Nikias- und Crassus-Paar, das sich sowohl
in Cod. 23, als auch in Codex O-II-8 findet, wo es
eigentlich zu erwarten wäre. Seine Anwesenheit in Cod. 23 kann mit der
Acciaioli-Rinuccini-Orientierung erklärt werden. Den Viten in Codex O-II-8 fehlen jedoch die in Cod. 23 vorhandenen ausführliche
Kolophone (siehe oben). Eine Rinuccini-Übersetzung mit einem detaillierten
Kolophon mit genauen Datumsangaben fehlt jedoch auch in Codex
O-II-8 nicht: die Agesilaos-Übersetzung von Rinuccini, die im Cod. 23
fehlt, findet sich am Ende von Codex O-II-8, und
enthält einen Kolophon von demselben Typ wie Cod. 23 (Explicit agesilai uita die
XXVIII octobris hora XIIII proprie anno MCCCCLXII, vgl. Antolín 1913, Bd. III, 205–208 ). All dies
suggeriert, dass die Nikias- Crassus-, Agis- und Cleomenes-Viten im Cod. 23 und
die Agesilaus-Vita im Codex O-II-8 aus einer
gemeinsamen Quelle, die die Rinuccini- und vielleicht auch die
Acciaioli-Übersetzungen vereinte, stammen können, während die Nikias- und
Crassus-Viten des Codex O-II-8 die „allgemeine”,
standardisierte Textüberlieferung vertreten können. $$Vergleich! dazu erwarte
ich Fotos aus der El Escorial$$ Die an Schlüsselpositionen gestellten Acciaioli-
und Rinuccini-Übersetzungen – letztere mit den charakteristischen detaillierten
Kolophonen – in beiden Handschriften (Anfang und Mitte im Cod. 23, Ende im Codex O-II-8) deuten auf eine bewussten, gemeinsamen
Kompositionsprinzip hin, und machen die bereits anhand des Inhalts und des
Schreibers aufgezeigte Verbindung zwischen den zweien Handschriften noch enger.
Die Tatsache, dass die erwähnten detaillierten Kolophone mit den genauen
Datenangaben der Rinuccini-Übersetzungen ausschließlich in Wiener Cod. 23 und im
Codex O-II-8 der El Escorial erhalten blieben,
macht die inhaltliche Zusammengehörigkeit der Codices unzweifelhaft. Demzufolge
kann vermutet werden, dass die zwei Bände in Bezug zueinander konzipiert und
ausgeführt worden waren. Die Frage, ob die Handschriften als erster und zweiter
Teil einer zweibändigen Vitensammlung aufgefasst worden waren, bleibt jedoch
offen. Dagegen sprechen gewisse Unterschiede in der Gestaltung (spärlichere
bianchi girari-Ausstattung von Filippo Torelli , (1409–1468) und Überschriften von
$$KK?Ormannus$$ im Codex O-II-8 [vgl. De la Mare 1985, App. I, Nr. 1/3 ]; reichere
Ausstattung von Mariano del Buono ,
vergoldete Überschrift auf der Titelseite und Rubriken vom Schreiber in Cod. 23
[die Illuminatoren wurden von Maria Theisen identifiziert, s. Ausstattung]),
welche aber bei mehrbändigen Buchreihen durchaus möglich waren. Auch die
Größenunterschiede – Codex O-II-8 ist kleiner, als Cod.
23 – können mit den unterschiedlichen Umfängen erklärt werden. Die Einbänden
bieten keinen weiteren Anhaltspunkt, weil während Codex O. II
8 immer noch seinen originalen Florentiner Ledereinband besitzt –
einen Verwandten des Einbandes der Wiener Corvine Cod. 438 –, erhielt Cod. 23 seinen
ersten und einzigen Einband wohl erst in den 1510er Jahren in Buda . Da der Schnitt des Cod. 23 nicht mehr glatt
ist, lassen sich die Schnitte der beiden Handschriften nicht wirklich
vergleichbar. Sie sind jedoch beide vergoldet und mit einem Rautenmuster
versehen. Die beiden Handschriften (Wien, ÖNB, Cod. 23, Codex
O-II-8) bilden – als Korpus – jedenfalls einen Teil des Prozesses ab,
durch den Mitte des 15. Jhs. die Plutarch-Biografien und ihre lateinischen
Übersetzungen, die bisher unabhängig überliefert wurden, allmählich zu einem
vollständigen Korpus zusammengeführt wurden. Diese Bestrebungen waren eng mit
der Tätigkeit von Vespasiano da
Bisticci in Florenz
verbunden (vgl. den an Piero de’
Medici gewidmete, vollständige Korpus: Florenz,
Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.65.26, Plut.65.27).
Annotationen/Graecain Bearbeitung
Offene Fragen zur Provenienzin Bearbeitung
Beschreibung und Einordnung des BuchschmucksFleuronnéeAlle Bianchi girari-Verzierungen dieser Handschrift wurden mit
Fleuronnée-Dekor von sehr hoher künstlerischer Qualität versehen. Das Fleuronnée
ist entweder in kurzen, sich volutenförmig einrollenden Einzelfäden, meist
jedoch in Bündeln von mehreren, locker nach links und rechts ausschwingenden
Fäden direkt an die blaue Außenkontur der Weißrankenfelder angesetzt. Der
mittlere Faden trägt stets einen blattförmig bewimperten Goldtropfen, aus dem
wiederum ein längerer, von kleinen Querstricheln akzentuierter Faden (daraus
evtl. wieder ein Goldtropfen) wächst. Die Fadenenden sind eingerollt, deren
Abschluss mit Querstricheln oder Kreuzchen, immer jedoch mit einem Punkt
markiert. Die feinen Bouquets aus Fäden und bewimperten Goldtropfen werden von
Ringen, Fibrillen und schwungvoll gezeichneten kleinen Stern- oder Rautenmotiven
mit Häkchen begleitet.
Dekor der AnfangsseiteDer Schriftspiegel wird zu drei Seiten fortlaufend von
Bianchi girari Bordüren begleitet, wobei das Bordürenband im Bas-de-page
zusätzlich Fleuronnée-Besatz (duftige Bouquets aus Fäden mit grünen Blättchen,
kleinen rosa Blütenkelchen und bewimperten Goldtropfen) aufweist sowie auch
breiter angelegt ist als links und im Kopfbereich der Seite. Dort endet die
Bordüre in einer Agave-artigen Formation aus spitzen Blättern. Eine goldene
Doppelleiste, an den Enden und in der Mitte des Bas-de-page zu Medaillons
geformt, dient als inneres Gerüst der Bordüre, deren Weißranken sich nahezu ohne
Unterbrechung in kreisender Spiralen- und Herzform um die Goldleisten winden. In
die beiden kleineren Medaillons sind sehr fein gemalte, golden beschriftete
Profilportraits von Faustina und Alcibi[ades] vor blauem Hintergrund eingefügt.
Das große Medaillon mit Lorbeerkranz und dem für eine spätere Ausmalung
vorbereiteten, leeren Wappenschild in der Mitte des Bas-de-page ruht auf einem
großen, breitlappigen Weißblatt. Die Bianchi girari setzen im Bas-de-page an der
goldenen Doppelleiste, jeweils links und rechts des zentralen Medaillons, sowie
an der Vase im unteren Bereich des linken Bordürenbandes an. Danach wird der
Lauf der Ranken noch zweimal mittels Einschubs größerer Blattkelche akzentuiert.
Alle Blätter und Ranken sind mit ockergelber Lavierung zart modelliert. Das
ebenfalls mit Bianchi girari ornamentierte Außenfeld der einleitenden S-Initiale
ist unmittelbar mit der Bordüre verbunden. Die Bordüren sind zudem von Figuren
bevölkert: Zwei Putten halten den Lorbeerkranz im Bas-de-page, ein weiterer
sitzt auf einem liegenden Reh, ein anderer auf einer der goldenen Leisten. Zwei
Putten im oberen Bereich der Bordüre scheinen die Zweige an der Goldleiste zu
befestigen. Ferner sitzen vier Vögel, ein Widder und ein großer Hase in den
Ranken. Hermann Julius Hermann hatte
die Buchmalereien mit Blick auf Cod. 19 und Cod. 22 der Österreichischen
Nationalbibliothek grob „der Richtung des Francesco d’Antonio del
Cherico nahestehend“ zugeordnet und den Codex in die Zeit um 1470
datiert (Hermann 1932 , 63). Mittlerweile
kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, dass die Illuminationen des Cod. 23
einem Florentiner Zeitgenossen Francescos,
und zwar Mariano del Buono
(1433–1504) zuzuschreiben sind (Dillon Bussi
2002 , 108; Madas 2009 , 60 - zu
Mariano allgemein: Garzelli I, 1985 , 190–215
(Werkverzeichnis); Galizi 2004 ). Vergleiche
mit dessen Hauptwerk, den beiden Bänden einer Livius -Prachtausgabe für
Johannes Vitéz aus der Zeit um
1469/70, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich hier um das Werk Marianos handelt (Münchener Clm
15731 und Clm 15733;
Clm 15732
illuminierte der etwas jüngere Ser Riccardo
di Nanni ). Charakteristisch sind schlanke, sich nur unmerklich
verjüngende Rankenschlingen mit Tendenz zu symmetrisch aufgebauten Formen. Die
Zweige enden in untersichtig gezeigten, rundblättrigen Blüten, die meistens mit
einem breiten Verbindungsring an die Stängel angesetzt wurden. Im Bestreben, die
Bordüre möglichst dicht zu füllen, entwickelte der Illuminator außerdem
längliche, gekerbte Blattformen (meistens dreieckig, manchmal auch Blattkämme),
die das Rankenband nach außen hin begrenzen: ein Merkmal, das die Arbeiten
seiner Werkstatt deutlich von jenen des Francesco di Antonio del Chierico
unterscheidet. Zudem verwendete er sehr häufig Fruchtmotive und herzförmige
Blättchen als Zwickelfüllungen. Die verbleibenden Zwischenräume dieses dichten
Rankengewebes wurden in den Farben Rosa, Grün und Blau bemalt sowie das gesamte
Rankenwerk blau eingefasst und mit weißen (gelegentlich auch gelben) Drei- und
Vierpunktgruppen akzentuiert. Abgesehen von den verwendeten Vorlagen spricht
auch die skizzenhafte Binnenmodellierung der Putten mit nur wenigen Schraffen,
Punktaugen und kleinen Stricheln unter Nase und Lippen für eine Ausführung durch
Mariano del Buono . Die
Modellierung der Putten erfolgte hauptsächlich durch leichte, fleckige
Farblavierung, die den Zeichnungen Sfumato-Effekt verleiht, vergleiche auch den
Aulus Gellius Codex aus der Chetham’s School of Music in Manchester (Cod. No. 27900) des Königs Matthias Corvinus (der Codex war von Francesco Sassetti , dem gescheiterten
Finanzmanager der Medici, an den ungarischen König verkauft worden). Ein
besonderes Merkmal ist außerdem die stumpfe braune Farbe des Fells von Hase und
Reh – dieselbe Farbmischung findet sich auch in anderen Arbeiten seiner
Werkstatt, vgl. etwa die Tiere in den Bordüren der Münchener Clm
15731 und Clm 15733,
die ebenfalls aus der Bibliothek des Johannes
Vitéz stammen (Bauer-Eberhardt 2014 , Abb. 377, 378, 384). Die für die Werkstatt
typischen gekerbten, länglichen Blattformen bzw. Blattkämme könnte Mariano aus jenen des älteren
Florentiner Meisters Bartolomeo
Varnucci (1410–1479) weiterentwickelt haben, der im Jahr 1471 als
Bürge für Mariano aufscheint
(Dillon Bussi 2002 , 106). Levi D’Ancona hatte in Erwägung gezogen, in
Varnucci den Lehrer
Marianos zu sehen;
schriftliche Quellen über seine Ausbildung sind jedoch nicht erhalten (s. Levi D’Ancona 1962 , 176). Die Bestimmung
des Cod. 23 als eigenhändiges Werk Marianos wird jedoch nicht nur hinsichtlich der Blatt- und
Rankenformen seiner Bianchi girari, sondern auch hinsichtlich des meist weniger
beachteten Fleuronnée-Stils unterstützt, der ebenfalls exakt mit den für ihn
gesicherten Werken übereinstimmt. Aus seinem Atelier gingen auch die Wiener
Corvinen Cod. Ser. n. 12758,
Cod. 438 und Cod. 224 hervor. Nicht selten
arbeitete Mariano für größere Aufträge mit anderen Florentiner Buchmalern zusammen, was zu gegenseitigen
Inspirationen führte. Gemeinsam mit Francesco di Antonio del
Chierico (1433–1484) illuminierte er um 1470 bspw. eine De
Civitate Dei-Handschrift für Iñigo
d'Avalos , General im Dienst der Könige von Neapel (
London, British Library, Add MS 15246; Alexander
1994 , 150) Auch Cod. 23 illuminierte er nicht ganz alleine. Im
Gegensatz zu Marianos Stil steht
hier die Ausführung der beiden kleinen Medaillons mit den Profilbildern von
Faustina und Alcibiades. Diese sind nicht lavierend, sondern in Deckfarben ohne
Sfumato-Effekt kräftig aufgetragen. Zwar repräsentieren sie grundsätzlich eine
andere Realitätsstufe als das Rankenwerk und seine Bewohner, dennoch ist im
Vergleich mit Werken, die zur Gänze von Mariano illuminiert wurden, zu konstatieren, dass auch deren
Medaillonbildchen wesentlich zarter ausgeführt sind. Seine weiter oben
beschriebene Figurentypik behielt er darin stets bei (vgl. beispielsweise die
Titelseite des ÖNB, Cod. 717, Hermann 1932 , Taf.
XIV). Die beiden Medaillons in Cod. 23 mit ihren kompakt geformten,
präzise gezeichneten und überzeugend rundplastisch modellierten Portraitbüsen
vor schwarzblauem Grund sind deutlich von anderem Charakter und es darf mit
Edina Zsupán gefragt werden, ob diese beiden von einem zweiten Meister noch in
Florenz oder bereits
in Buda eingemalt wurden
(wir danken unserer Kollegin für diesen Hinweis; zur Budaer Werkstatt in den
späten 1480er Jahren s. Zsupán, in Földesi et al.
2018 , 64–69, 98–101, 230–233; Zsupán, in Theisen-Morzé 2021 , 30–32, 400–403, 412–420; Zsupán, in Zöhl et al. 2021 ). Insbesondere das graue
Inkarnat in Kombination mit kräftigen Rot-, Gelb- und Grüntönen erinnert an die
Palette des Mailänders Francesco da
Castello (ca. 1447–1507) bzw. des Cassianus-Meisters gegen Ende der 1480er
Jahre, wenngleich die Figurentypik von Faustina und Alcibiades – für die sich
der Illuminator auch aus zeitgenössischen graphischen Werken, wie z.B. jenen des
Florentiner Meisters der Wiener
Passion (aktiv um 1480), Inspiration geholt haben könnte – eine
gänzlich andere ist. Dem Meister der Medaillonbildchen von Cod. 23 konnte bisher
noch kein weiteres Werk zugeschrieben werden, sodass sich eine Budaer Entstehung
derzeit nicht konkret belegen lässt. Auch die Frage, warum diese eingefügt
wurden, nicht aber das Wappen, muss noch offen bleiben.
TextüberlieferungDie Handschrift enthält 22 Vitae, darunter die von Donato Acciaioli verfasste Hannibal-
und Scipio-Vita. Die Testzusammenstellung scheint auf Donato Acciaioli (1429–1478) und seinen
Kreis ausgerichtet zu sein: Die Handschrift beginnt mit der von Acciaioli übersetzten und Piero de’ Medici gewidmeten
Alcibiades-Vita und endet mit seinen im Geist der Plutarch-Imitation
entstandenen und 1467 fertig gestellten Hannibal- und Scipio-Viten und folgt
damit offensichtlich einer bewussten Komposition. Zu Beginn des Codex bilden die
Werke von Acciaioli – Widmung,
Übersetzung der Alcibiades-Vita und Comparatio zwischen Alcibiades und
Coriolanus – eine kompakte Einheit, was eine unregelmäßige und auf Acciaioli ausgerichtete Anordnung ist.
Erst danach steht die Coriolanus-Vita in der Übersetzung von Guarino Veroneses . Einen Hinweis auf den
Acciaioli-Kreis gibt auch der Schreiber Ser Agnolo di Jacopo de’ Dinuzi di San
Gimignano , der, wie sein Oeuvre, darunter mehreren
Acciaioli-Werke, zeigt, mit Acciaioli in Verbindung stand. (Vgl. De la Mare 1985 , 432–433 und 479–481, App. I, Nr.
1) Auch eine weitere von ihm kopierte Vitae-Handschrift, Paris, Bibliothèque nationale de France,
Latin 5832, beginnt mit einer von Acciaioli übersetzten Vita (Vita Demetrii), gewidmet wieder an
Piero de’ Medici . Aufgrund der
Entwicklungsstandes der Schreiberhand könnte die Pariser Handschrift zu einer
ähnlicher Zeit wie Cod. 23 entstanden sein. $$Paris, Bibliothèque nationale de France,
Latin 5830 Buchschmuck?
Zusammenstellung? https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc64822k, keine
Bilder$$). Ein weiteres Merkmal der Zusammenstellung ist die Gruppierung der von
Alamanno Rinuccini
übersetzten Vitae (Nikias, Crassus, Agis et Cleomenes, Nr. 19–24). Ihre Nähe zu
einer “Autorenversion” seiner, an Piero de’
Medici gewidmeten Übersetzungen wird auch durch die nur in Cod.
23 überlieferten, detaillierten Kolophone bezeugt. Sie enthalten genaue
Informationen über die Fertigstellung, die Kuriere und die Übergabe an Piero de’ Medici und liefern so eine
sichere Datierung der Übersetzungen der Nikias-, Crassus-, Agis- und
Cleomenes-Übersetzungen (24. 12. 1455, 17 Uhr; 4. 10. 1455, 18 ½ Uhr; 11. 9.
1458) (vgl. Giustiniani 1961, 28, Anm. 3; 33, Anm. 1) Das letzte Element des
Rinuccini-Korpus, die Agesilaos-Vita, übersetzt 1462 und ebenfalls gewidmet an
Lorenzo di Piero de’
Medici $$KK:welcher ist das? Il magnifico?$, fehlt jedoch in
diesem Band. Dazu s. Codex El Escorial, O-II-8 unten.)
Alamanno Rinuccini gehörte
zum Kreis des Donato Acciaioli ,
er und Donato waren eng befreundet (vgl. $$D’Addario 1960$$). Marianne Pade behandelt sowohl die
Rinuccini-Übersetzungen, als auch die Acciaioli-Übersetzungen als
zusammengehörende Phänomene des sog. Florentiner „civic humanism” unter den
Medici (Pade 2007 , I, 331–342). Nicht nur über
den Schreiber, sondern auch inhaltlich hängt ein Codex der Real Biblioteca del
Monasterio de San Lorenzo de El Escorial (Signatur: O. II
8) mit Cod. 23 eng zusammen. Sie ergänzen sich und machen – mit
gewissen Auslassungen (Lycurgos-Numa, Solon-Publicola, Aristeides-Cato,
Timoleon-Paulus Aemilius, Kimon-Lucullus) – den Hauptkern des Vitenkorpus,
eigentlich die gesamte Sammlung aus. $$KK: das verstehe ich nicht: Es ist
ebenfalls bemerkenswert, dass die zwei Handschriften untereinander einer
gewissen Chronologie folgen. Im Cod. 23 befinden sich nämlich im Prinzip Viten,
die ungefähr die ersten zwei Drittel des im editio princeps (1470, Rom,
Giovanni Antonio Campano bei Ulrich Han, GW M34472, ISTC ipoo83oooo )
fixierten Vitencorpus bilden – hier werden die Tituli, nicht die genauen
textlichen Übereinstimmungen gemeint –, aber nicht in der da angewendeten, der
Chronologie der römischen Personen entsprechenden Reihenfolge, sondern in einer
neugeordneten Form (s. die Acciaioli-Rinuccini-Prägung)$$. Der Codex der El
Escorial enthält ungefähr das letzte Drittel des Inhaltes der editio princeps,
ebenfalls in einer neugeordneten Form, die hiermit den Alexandros- und
Caesar-Viten beginnt (Typ der Zusammenstellung „Herrscherspiegel”, vgl. Pade, 2007, $$ ). Als eine Abweichung von der
Editio Princeps, befinden sich die Sertorius- und Eumenes-, sowie die Galba- und
Otho-Viten, die normalerweise der in der Editio princeps fixierten
chronologischen Reihenfolge entsprechend zum letzten Drittel gehören, in Cod. 23
statt in der Escorial-Handschrift. Die Tatsache, dass dieselbe Viten im Codex O-II-8 fehlen, weist auf einen engen Zusammenhang
zwischen den zwei Handschriften hin. Die einzige Überlappung zwischen den
Handschriften ist das von Alamanno
Rinuccini übersetzten Nikias- und Crassus-Paar, das sich sowohl
in Cod. 23, als auch in Codex O-II-8 findet, wo es
eigentlich zu erwarten wäre. Seine Anwesenheit in Cod. 23 kann mit der
Acciaioli-Rinuccini-Orientierung erklärt werden. Den Viten in Codex O-II-8 fehlen jedoch die in Cod. 23 vorhandenen ausführliche
Kolophone (siehe oben). Eine Rinuccini-Übersetzung mit einem detaillierten
Kolophon mit genauen Datumsangaben fehlt jedoch auch in Codex
O-II-8 nicht: die Agesilaos-Übersetzung von Rinuccini, die im Cod. 23
fehlt, findet sich am Ende von Codex O-II-8, und
enthält einen Kolophon von demselben Typ wie Cod. 23 (Explicit agesilai uita die
XXVIII octobris hora XIIII proprie anno MCCCCLXII, vgl. Antolín 1913, Bd. III, 205–208 ). All dies
suggeriert, dass die Nikias- Crassus-, Agis- und Cleomenes-Viten im Cod. 23 und
die Agesilaus-Vita im Codex O-II-8 aus einer
gemeinsamen Quelle, die die Rinuccini- und vielleicht auch die
Acciaioli-Übersetzungen vereinte, stammen können, während die Nikias- und
Crassus-Viten des Codex O-II-8 die „allgemeine”,
standardisierte Textüberlieferung vertreten können. $$Vergleich! dazu erwarte
ich Fotos aus der El Escorial$$ Die an Schlüsselpositionen gestellten Acciaioli-
und Rinuccini-Übersetzungen – letztere mit den charakteristischen detaillierten
Kolophonen – in beiden Handschriften (Anfang und Mitte im Cod. 23, Ende im Codex O-II-8) deuten auf eine bewussten, gemeinsamen
Kompositionsprinzip hin, und machen die bereits anhand des Inhalts und des
Schreibers aufgezeigte Verbindung zwischen den zweien Handschriften noch enger.
Die Tatsache, dass die erwähnten detaillierten Kolophone mit den genauen
Datenangaben der Rinuccini-Übersetzungen ausschließlich in Wiener Cod. 23 und im
Codex O-II-8 der El Escorial erhalten blieben,
macht die inhaltliche Zusammengehörigkeit der Codices unzweifelhaft. Demzufolge
kann vermutet werden, dass die zwei Bände in Bezug zueinander konzipiert und
ausgeführt worden waren. Die Frage, ob die Handschriften als erster und zweiter
Teil einer zweibändigen Vitensammlung aufgefasst worden waren, bleibt jedoch
offen. Dagegen sprechen gewisse Unterschiede in der Gestaltung (spärlichere
bianchi girari-Ausstattung von Filippo Torelli , (1409–1468) und Überschriften von
$$KK?Ormannus$$ im Codex O-II-8 [vgl. De la Mare 1985, App. I, Nr. 1/3 ]; reichere
Ausstattung von Mariano del Buono ,
vergoldete Überschrift auf der Titelseite und Rubriken vom Schreiber in Cod. 23
[die Illuminatoren wurden von Maria Theisen identifiziert, s. Ausstattung]),
welche aber bei mehrbändigen Buchreihen durchaus möglich waren. Auch die
Größenunterschiede – Codex O-II-8 ist kleiner, als Cod.
23 – können mit den unterschiedlichen Umfängen erklärt werden. Die Einbänden
bieten keinen weiteren Anhaltspunkt, weil während Codex O. II
8 immer noch seinen originalen Florentiner Ledereinband besitzt –
einen Verwandten des Einbandes der Wiener Corvine Cod. 438 –, erhielt Cod. 23 seinen
ersten und einzigen Einband wohl erst in den 1510er Jahren in Buda . Da der Schnitt des Cod. 23 nicht mehr glatt
ist, lassen sich die Schnitte der beiden Handschriften nicht wirklich
vergleichbar. Sie sind jedoch beide vergoldet und mit einem Rautenmuster
versehen. Die beiden Handschriften (Wien, ÖNB, Cod. 23, Codex
O-II-8) bilden – als Korpus – jedenfalls einen Teil des Prozesses ab,
durch den Mitte des 15. Jhs. die Plutarch-Biografien und ihre lateinischen
Übersetzungen, die bisher unabhängig überliefert wurden, allmählich zu einem
vollständigen Korpus zusammengeführt wurden. Diese Bestrebungen waren eng mit
der Tätigkeit von Vespasiano da
Bisticci in Florenz
verbunden (vgl. den an Piero de’
Medici gewidmete, vollständige Korpus: Florenz,
Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.65.26, Plut.65.27).
Annotationen/Graecain Bearbeitung
Offene Fragen zur Provenienzin Bearbeitung
Die Wiener Corvinen. Beschreibung von Wien, ÖNB, Cod. 23. Version 0.1, 8.5.2025. URL: https://digi-doc.onb.ac.at/fedora/objects/o:crv.cod-23/methods/sdef:TEI/get
Verantwortlich für die BeschreibungIvana Dobcheva (Kodikologie), Katharina Kaska (Kodikologie), Marianne Rozsondai (Einband), Friedrich Simader (Geschichte), Maria Theisen (Buchschmuck), Edina Zsupán (Texterschließung, Literaturerfassung)
LizenzhinweisDie Beschreibung der Handschriften sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.
LinksDas Bildmaterial dieser Webseite sind Reproduktionen aus der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.