Perg. III+232+I* Bl. 357×244.
Text: Florenz, um
1470
Buchschmuck: Florenz, späte 1460er
Pergament italienischer Bearbeitung. Haar- und Fleischseiten gut unterscheidbar. — Der Codex ist überwiegend aus regelmäßigen Quinionen zusammengestellt. Lagenformel: IVS+I + IIII + 14.V140 + (V-1)149 + 5.V200 + IV208 + 2.V228 + II232. Als Vor- (fol. I) und Nachsatzblatt (fol. I*) ist je ein Papierdoppelblatt voraus- bzw. nachgebunden, dessen andere Hälfte als Vorder- bzw. Hinterspiegel fungiert. Ein Blatt fehlt zwischen fol. 146 und fol. 147. Die Blätter in den Lagen sind FH HF angeordnet. Horizontale Reklamanten auf der letzten Lagenseite unten in der Mitte.Lagensignaturen am Blattrand der ersten Lagenseite unten links meistens weggeschnitten (z.B. fol. 201r '21'). — Barocke Tintenfoliierung 1–189, 191–231 (190 übersprungen) an den rechten, oberen Blattecken. Fol. 232 sowie die Vor- und Nachsatzblätter neulich foliiert in Bleistift.
227×137 mm, 1 Spalte zu 36 Zeilen. Tintenlinierung mit Hilfe eines kamm- oder rechenartigen Instrumentes (lat. pecten) (rake ruling vgl. Gumbert 1986, 43–46): Schriftspiegelrahmung durch doppelte bis zum Seitenrand gezogene Vertikallinien (Abstand 7 mm); die Zeilenlinierung zwischen den inneren vertikalen Begrenzungen gezogen (Derolez, Typ 31; Muzerelle, Mastara, formula 2-2/0/0/J). Zwei Einstichlöcher am Innenrand, ein Einstichloch am Außenrand unten; die vertikalen Begrenzungen beginnen auf Recto häufig unter dem oberen Blattrand und enden auf Verso vor dem unteren Blattrand, was auf eine Linierung mittels Rake Rostrum hindeutet (nach Derolez rake ruling ink/ink). Die oberste Horizontallinie als erste Schreibzeile verwendet. — Humanistica textualis von der Hand des Johannes Franciscus de Sancto Geminiano (vgl. Kolophon auf fol. 231v: Johannes Franciscus de Sancto Geminiano scripsit, siehe auch de la Mare 1985, 502, no. 29:44). Von demselben Schreiber auch die Corvinen New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27, Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 12758 und Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 344, letztere aus der Bibliothek von Johannes Vitéz de Zredna. New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 (Livius, Decas III) und Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 12758 (Livius, Decas IV) gehören zur selben Livius-Reihe. Nach Albinia de La Mare (1971) ist Cod. 22 der erste Band der gleichen Reihe. Der Schreiber hat mehrere Livius-Reihen angefertigt. Für die Handschriften siehe de la Mare 1985, 501–503, no. 29.
Der Buchschmuck stammt von Hand des Francesco d’Antonio del Chierico aus Florenz und kann in die späten 1460er Jahre datiert werden. Die erste Seite des Codex zieren eine von Vögeln und Putten belebte Bianchi girari-Bordüre sowie ein gegen Ende der 1480er Jahre in Buda eingefügtes Wappen des Matthias Corvinus (sog. “Zweiter Budaer Wappenmaler”). Die Bordüre erhielt zusätzlichen Schmuck durch Deckfarbenblüten und -blättchen sowie Arrangements aus bewimperten Goldplättchen und in Feder ausgeführten Filigranverzierung. Insgesamt enthält die Handschrift zehn 7- bis 14-zeilige, vergoldete Initialen auf Bianchi girari-Grund, die jeweils eines der Bücher einleiten:
1r | Bianchi girari-Bordüren zu drei Seiten des Schriftspiegels. In der Mitte unten ein Medaillon mit den goldenen Buchstaben "M - A" sowie dem bekrönten Wappen des Matthias Corvinus auf blauem Grund (ungarisch-böhmisches Wappen ohne Herzschild der Hunyadi), flankiert von zwei sitzenden Putten. In den Ranken ein weiterer Putto (mit Steckenpferd) und vier Fantasievögel. F[acturus]-Initiale, 11-zeilig, vergoldet, Bianchi girari, ohne Verbindung zur Rahmenbordüre. |
1v | I[am]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
25v | L[iberi]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
50v | A[ntio]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
79v | H[os]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
104r | P[ace]-Initiale, 14-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
127v | Q[ue]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
167r | I[am]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
186v | S[equitur]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
209v | L[ucio]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
373×245×50 mm. Historisierender, blindgedruckter Holzdeckeleinband (Wien, 19. Jh.). Deckel bezogen mit hellbraunem Leder. Sechs umlaufende Rahmen, mit Streicheisenlinien getrennt. Vier Rahmen sind leer, zwei verziert, im dritten Wellenranke-Rolle, im sechsten Rautenmuster. Das Mittelfeld in drei weitere Rechtecke geteilt. Im zentralen Mittelfeld ein großer Kreis, gefüllt mit verschiedenen, stilisierten Florblumen, in den Ecken fabelhafte Vögelpaare. Im oberen und unteren Mittelfeld weitere stilisierte Floral-Stempel. Am Rücken sechs Doppelbünde; im ersten Rückenfeld in Goldlettern: Livii Decas I.; in den übrigen Feldern mehrere Diagonale, in den kleinen Rhomben winzige Blattmotive. Der mehrfarbig bemalte Goldschnitt ist ungewöhnlich, ev. nachträglich und zeitgenössisch mit dem Einband aus dem 19. Jh. Reste des Metallfadens beim Kapital. Ohne Schließen.
Tabulae codicum, I, 4. — Hoffmann/Wehli 1929/1992, 98, 1. — Hermann 1932, 61 f., Kat. 57. — Unterkircher 1957, 2. — Csapodi 1973, 273, Nr. 394. — Bibliotheca Hungarica 1988–1994, I., 33–34, Nr. 31. — Bibliotheca Corviniana 1990, 61, Nr. 166. — Matthias Corvinus 1994, 57–58, Kat. 18 (Brigitte Mersich). — Madas 2009, 57, Nr. 78.
(1r–231v) Titus Livius: Ab urbe condita. Decas
prima (Briscoe 1991). Tit.: Titi Livii Patvini (!)
ab urbe condita liber primus
incipit... Finis deo gratias. Iohannes Franciscus de sancto Geminiano
scripsit.
(1r–v) Prolog; (1v–25r) Lib. I; (25v–50v) Lib. II; (50v–79r) Lib. III; (79v–104r) Lib. IV; (104r–127v) Lib. V; (127v–146v) Lib. VI; (147r–166v) Lib. VII; (167r–186v) Lib. VIII; (186v–209v) Lib. IX; (209v–231v) Lib. X;
(232r–v) . Leer.
Für den Buchschmuck dieses Codex, 1932 von Hermann Julius Hermann als eine um 1470 entstandene Florentiner Arbeit der Richtung Francesco del Chiericos bezeichnet (61 f., Nr. 57), wurde im Ausstellungskatalog der ÖNB aus dem Jahr 1994 eine mögliche Herkunft aus dem Atelier des Mariano del Buono vorgeschlagen (Matthias Corvinus, Kat. 18). Dieser Vorschlag beruhte auf der Beobachtung, dass der Schreiber unseres Codex mit jenem der Livius-Ausgaben Cod. Ser. n. 12758 sowie New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 identisch ist und die beiden letztgenannten (zusammengehörenden) Codices im Atelier des Mariano illuminiert wurden. Allerdings ist Cod. 22 von den Maßen her wesentlich größer und geht daher wohl nicht auf dieselbe Bestellung zurück. In der Regel bildeten Schreiber und Illuminatoren keine festen Teams: die Cartolai mussten die verschiedenen Kräfte von Auftrag zu Auftrag je nach Kundenwunsch und Verfügbarkeit neu zusammenstellen. Stets gleichbleibende Gruppierungen sind daher eher die Ausnahme. Auch die Annahme, dass Cod. 22 vom selben Buchmaler dekoriert wurde wie Cod. Ser. n. 12758, muss aufgegeben werden. Vielmehr dürfen wir dem Urteil Ulrike Bauer-Eberhardts folgen, die 2008 im Zuge ihres Beitrags zum Buchschmuck der Münchner Corvinen auch für Cod. 22 die Hand des Francesco del Chierico (1433–1484) identifizierte und damit Hermanns erste Einordnung präzisierte (Bauer-Eberhardt 2008, 117). Ihr Vergleichsbeispiel ist die um 1465 entstandene Celsus-Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69, deren gesamter Aufbau der Rankenbordüre bis hin zur Typik der Putten dem Wiener Cod. 22 sehr nahestehen.
Charakteristisch für Francesco del Chiericos Stil ist die überaus exakte, sehr fein ausgeführte Zeichnung, die vielleicht seiner ursprünglichen Ausbildung als Goldschmied geschuldet war (zu Francescos Leben s. Levi D’Ancona 1962, 112–114 und Garzelli 1985), 163 f. Seine zarten, sich sanft verjüngenden Weißranken enden vorzugsweise in kleinen, mandel- oder herzförmigen Blattformationen. Die wie Schachtelhalme ineinander gesteckten Zweige weisen trichterförmige Nodi mit gewellten Rändern auf. Die bewimperten Goldtropfen, an deren Scheitelpunkt jeweils ein längerer, von Querstricheln akzentuierter Faden sitzt, ordnete er gern in Dreiecksformationen an. Aus den zahlreichen Beispielen seines Ateliers sei hier das Rankenwerk einer Corvine aus Györ, Diözesanbibliothek, Armadio I, No. 1, zum Vergleich herangezogen, das die beschriebenen Charakteristika vor Augen führt und zudem mit seiner Datierung in das Jahr 1467 einen Hinweis auf die zeitliche Einordnung des Cod. 22 in die späten 1460er Jahre gibt. In aufwendiger dekorierten Codices bereicherte Francesco sein Fleuronnée mit bunten Blüten und Blättchen, darunter auch – wie in Cod. 22 – mit Distelblüten und gelben Zitrusfrüchten in Deckfarbenmalerei. (Pomeranzen und Zitronen, von den Medici gehandelt und um die Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals auch in Florenz kultiviert, zählten zur exquisiten Luxusware, s. Galetti 1996, 197–216; sie waren Symbole einer wohlhabenden Elite.)
Francesco war jedoch nicht nur ein begnadeter Dekorationsmaler. Dank seiner Lehre bei Fra Angelico beherrschte er die qualitätvolle Figurenzeichnung ebenso. Seine sicher umrissenen Figuren modellierte er in zarten Ockertönen und vermied dabei starke Hell-Dunkel-Kontraste, sodass die Körper plastisch, durch den Sfumato-Effekt lebendig und niemals statuarisch oder steif erscheinen. Seine Protagonisten zeichnen sich durch feine Gesichtszüge und leicht verhangenen Blick aus, das Haar bildet über der Stirn meist einen größeren Schopf und lässt die Schläfen frei (“Geheimratsecken”), die Putten haben stark vorgewölbte Bäuchlein. Sehr gut bietet sich die Corvine Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 2 (Cicero) hinsichtlich der Ausführung der Putten mit ihren birnenförmigen Körpern, den pausbackigen Gesichtern, bis hin zu den Flügeln mit den darauf aufgesetzten, hellen Punktreihen zum Vergleich an. Der Codex kann grob zw. 1460 und 1470 datiert werden. Aus derselben Zeit stammt auch Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 6 (Eusebius), dessen zwei Wappenhalter-Putten der ersten Seite sogar denselben Vorlagen folgen, wie sie für Cod. 22 verwendet wurden. Genauer datiert sind die beiden, ebenfalls aus seinem Atelier stammenden, vergleichbaren Codices Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. lat. 160 (dat. 1467), und Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 10, der vor 1468 geschrieben und zunächst vermutlich von Johannes Vitéz angekauft worden war, bevor er in die königliche Bibliothek aufgenommen wurde (zu den Handschriften siehe The Buda Workshop of the Corvina Library 2018, 138 f., Kat. F2 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 2), 152 f., Kat. F9 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 6), 192 f., Kat. H4 (Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 160), 142 f., Kat. F4 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 10). – „Az ország díszére” 2020, 288–290, Kat. F2 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 2, Edina Zsupán), 312 f., Kat. F9 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 6, Edina Zsupán), 368–371, Kat. H4 (Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 160, Dániel Pócs), 295–298, Kat. F4 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 10, Dániel Pócs)).
Angesichts der genannten Codices fallen jedoch nicht nur Ähnlichkeiten in Rankengestaltung und Vorlagenwahl, sondern auch leichte Unterschiede in der Ausführung auf. Dies könnte zwar angesichts der vielen Aufträge leichthin mit unterschiedlicher Sorgfalt oder Tagesverfassung erklärt werden. Francesco del Chierico war jedoch nach dem Tod des Illuminators Zanobi Strozzi im Jahr 1468, mit dem er zuletzt noch am Buchschmuck der Antiphonarien für die Badia von Florenz gearbeitet hatte, in die Position eines Werkstattleiters aufgestiegen und managte nun nachweislich eine Gruppe von Illuminatoren (unter ihnen Attavante degli Attavanti, Cosimo und Francesco Rosselli, s. Garzelli 1985, 113–118). Ohne Zweifel führte er seither eines der produktivsten und gefragtesten Ateliers der Stadt mit vielen Mitarbeitern. Seine Arbeiten waren von der Badia ebenso wie von den Medici (insbesondere Lorenzo de Medici) und Federico da Montefeltre hoch geschätzt. Dank der Umtriebigkeit und guten Beziehungen seines Buchführers Vespasiano da Bisticci (1421–1498), wurden zahlreiche von ihm bzw. in seiner Werkstatt illuminierte Codices auch an fürstliche Sammler und Gelehrte nördlich der Alpen verkauft.
Diese Livius-Ausgabe ging an den ungarischen König Matthias Corvinus, wie das ungarisch-böhmische Wappen auf der ersten Seite verrät. Das Wappen wurde jedoch erst gegen Ende der 1480er Jahre vom sog. “Zweiten Budaer Wappenmaler” ausgeführt, ohne damit ein Vorgängerwappen zu übermalen (Madas 2009). Da der übrige Buchschmuck wohl in den späten 60er Jahren entstanden ist und Francesco del Chierico Ende der 80er Jahre nicht mehr lebte, dürfte der Band entweder eine Voranfertigung gewesen sein, die erst zu einem späteren Zeitpunkt ab Lager eines Buchhändlers zu Matthias Corvinus nach Buda geschickt wurde, oder er wurde von einem (nicht nachgewiesenen) ungarischen Vorbesitzer in die königliche Bibliothek übernommen (siehe Offene Fragen zur Provenienz).
Cod. 22 gehört zu einer Gruppe Florentiner Handschriften mit der Ersten Dekade des Livius, die Verwandte von M (Mediaceus, Familie μ = Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.63.19, 10. Jh.) sind. M ist jene Handschrift im Stemma, die den Nicomachischen Archetyp, ein im späten 4. oder im frühen 5. Jahrhundert überarbeitetes Textzeugnis, am treuesten bewahrt hat (vgl. Reeve 1996a, 113–114). Nach Billanovichs Vermutung entstand M zusammen mit einer Parallel- oder Zwillingshandschrift im Jahre 976 als Präsentationshandschriften anlässlich des Italienzuges Ottos I. und Ottos II. in Verona. Während die Parallelhandschrift, die vielleicht mit dem in der Neuzeit verlorengegangenen Codex Vormaciensis (Vo, Familie μ) identisch ist, von den Regenten über die Alpen gebracht wurde, blieb M in der Dombibliothek in Verona. Im Jahr 1376 gelangte er dann in den Besitz Antonios de Legnagos. Seine weitere Geschichte ist unbekannt, bis ihn Mitte des 16. Jhs. Cosimo I. de’ Medici, Großherzog von Toscana (1537–1576) neu binden ließ (vgl. Billanovich 1959).
Innerhalb der Florentiner Gruppe um M ist Florenz, Biblioteca Riccardiana, Ricc. 485 die älteste Handschrift (erste Hälfte des 14. Jhs.) und gleichzeitig die Quelle der ganzen Gruppe. Cod. 22 wurde, im Gegensatz zu den Abschriften der anderen Dekaden dieses Sets, nicht direkt von Florenz, Biblioteca Riccardiana, Ricc. 485 kopiert, gehört aber ebenfalls der Gruppe um M an (vgl. Reeve 1996a). Cod. 22 wird in Reeve 1996b genannt. Zur Texttradition der ersten Dekade siehe zusammenfassend de Franchis 2015.
Nach Albinia de la Mare ist Cod. 22 der erste Teil einer Livius-Reihe, deren andere zwei Bände New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 (3. Dekade) und Wien, ÖNB Cod. Ser. n. 12758 (4. Dekade) sind (de la Mare 1971, 185). Gestützt wird diese Annahme durch die Person des Schreibers aller drei Handschriften, Giovanfrancesco Marzi (Johannes Franciscus de Sancto Geminiano). Während jedoch die beiden anderen Handschriften in ihren formalen Charakteristika übereinstimmen, unterscheidet sich Cod. 22 leicht. De la Mare führt das geringere kalligraphische Niveau der Schrift der Handschrift auf eine frühere Schaffensphase des Schreibers zurück (vgl. de la Mare 1971, 185, Anm. 57). Die Sonderstellung von Cod. 22 zeigt sich auch in der Person des Miniators, Francesco Antonio del Chierico. Die beiden anderen Bände wurden von Mariano del Buono ausgestattet (vgl. Cod. ser. n. 12758).
Wie die anderen Florentiner Bianchi girari-Handschriften aus den 1460er und 70er Jahren in der Bibliotheca Corviniana, hatte wohl auch Cod. 22 einen ungarischen Vorbesitzer vor Matthias Corvinus. Die Mehrzahl dieses Bestandes gelangte aus den Bibliotheken des Johannes Vitéz de Zredna, György Handó und Janus Pannonius in die königliche Bibliothek. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Cod. 22 demselben Weg folgte, auch wenn diese Bibliophilen auch andere Livius-Abschriften besaßen: Johannes Vitéz de Zredna: Wien, ÖNB, Cod. 3099; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15731, Clm 15732, Clm 15733, György Handó: Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Barb. 168 (Dekade 1), Verona, Biblioteca Capitolare, CXXXVI (Dekade 3), CXXXVII (Dekade 4). Die Bände aus dem Besitz von György Handó gelangten später in die Bibliotheca Corviniana.
Siehe auch die offenen Fragen zur Provenienz bei Cod. ser. n. 12758.
Perg. III+232+I* Bl. 357×244.
Text: Florenz, um
1470
Buchschmuck: Florenz, späte 1460er
Pergament italienischer Bearbeitung. Haar- und Fleischseiten gut unterscheidbar. — Der Codex ist überwiegend aus regelmäßigen Quinionen zusammengestellt. Lagenformel: IVS+I + IIII + 14.V140 + (V-1)149 + 5.V200 + IV208 + 2.V228 + II232. Als Vor- (fol. I) und Nachsatzblatt (fol. I*) ist je ein Papierdoppelblatt voraus- bzw. nachgebunden, dessen andere Hälfte als Vorder- bzw. Hinterspiegel fungiert. Ein Blatt fehlt zwischen fol. 146 und fol. 147. Die Blätter in den Lagen sind FH HF angeordnet. Horizontale Reklamanten auf der letzten Lagenseite unten in der Mitte.Lagensignaturen am Blattrand der ersten Lagenseite unten links meistens weggeschnitten (z.B. fol. 201r '21'). — Barocke Tintenfoliierung 1–189, 191–231 (190 übersprungen) an den rechten, oberen Blattecken. Fol. 232 sowie die Vor- und Nachsatzblätter neulich foliiert in Bleistift.
227×137 mm, 1 Spalte zu 36 Zeilen. Tintenlinierung mit Hilfe eines kamm- oder rechenartigen Instrumentes (lat. pecten) (rake ruling vgl. Gumbert 1986, 43–46): Schriftspiegelrahmung durch doppelte bis zum Seitenrand gezogene Vertikallinien (Abstand 7 mm); die Zeilenlinierung zwischen den inneren vertikalen Begrenzungen gezogen (Derolez, Typ 31; Muzerelle, Mastara, formula 2-2/0/0/J). Zwei Einstichlöcher am Innenrand, ein Einstichloch am Außenrand unten; die vertikalen Begrenzungen beginnen auf Recto häufig unter dem oberen Blattrand und enden auf Verso vor dem unteren Blattrand, was auf eine Linierung mittels Rake Rostrum hindeutet (nach Derolez rake ruling ink/ink). Die oberste Horizontallinie als erste Schreibzeile verwendet. — Humanistica textualis von der Hand des Johannes Franciscus de Sancto Geminiano (vgl. Kolophon auf fol. 231v: Johannes Franciscus de Sancto Geminiano scripsit, siehe auch de la Mare 1985, 502, no. 29:44). Von demselben Schreiber auch die Corvinen New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27, Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 12758 und Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 344, letztere aus der Bibliothek von Johannes Vitéz de Zredna. New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 (Livius, Decas III) und Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 12758 (Livius, Decas IV) gehören zur selben Livius-Reihe. Nach Albinia de La Mare (1971) ist Cod. 22 der erste Band der gleichen Reihe. Der Schreiber hat mehrere Livius-Reihen angefertigt. Für die Handschriften siehe de la Mare 1985, 501–503, no. 29.
Der Buchschmuck stammt von Hand des Francesco d’Antonio del Chierico aus Florenz und kann in die späten 1460er Jahre datiert werden. Die erste Seite des Codex zieren eine von Vögeln und Putten belebte Bianchi girari-Bordüre sowie ein gegen Ende der 1480er Jahre in Buda eingefügtes Wappen des Matthias Corvinus (sog. “Zweiter Budaer Wappenmaler”). Die Bordüre erhielt zusätzlichen Schmuck durch Deckfarbenblüten und -blättchen sowie Arrangements aus bewimperten Goldplättchen und in Feder ausgeführten Filigranverzierung. Insgesamt enthält die Handschrift zehn 7- bis 14-zeilige, vergoldete Initialen auf Bianchi girari-Grund, die jeweils eines der Bücher einleiten:
1r | Bianchi girari-Bordüren zu drei Seiten des Schriftspiegels. In der Mitte unten ein Medaillon mit den goldenen Buchstaben "M - A" sowie dem bekrönten Wappen des Matthias Corvinus auf blauem Grund (ungarisch-böhmisches Wappen ohne Herzschild der Hunyadi), flankiert von zwei sitzenden Putten. In den Ranken ein weiterer Putto (mit Steckenpferd) und vier Fantasievögel. F[acturus]-Initiale, 11-zeilig, vergoldet, Bianchi girari, ohne Verbindung zur Rahmenbordüre. |
1v | I[am]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
25v | L[iberi]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
50v | A[ntio]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
79v | H[os]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
104r | P[ace]-Initiale, 14-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
127v | Q[ue]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
167r | I[am]-Initiale, 8-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
186v | S[equitur]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
209v | L[ucio]-Initiale, 7-zeilig, vergoldet, Bianchi girari. |
373×245×50 mm. Historisierender, blindgedruckter Holzdeckeleinband (Wien, 19. Jh.). Deckel bezogen mit hellbraunem Leder. Sechs umlaufende Rahmen, mit Streicheisenlinien getrennt. Vier Rahmen sind leer, zwei verziert, im dritten Wellenranke-Rolle, im sechsten Rautenmuster. Das Mittelfeld in drei weitere Rechtecke geteilt. Im zentralen Mittelfeld ein großer Kreis, gefüllt mit verschiedenen, stilisierten Florblumen, in den Ecken fabelhafte Vögelpaare. Im oberen und unteren Mittelfeld weitere stilisierte Floral-Stempel. Am Rücken sechs Doppelbünde; im ersten Rückenfeld in Goldlettern: Livii Decas I.; in den übrigen Feldern mehrere Diagonale, in den kleinen Rhomben winzige Blattmotive. Der mehrfarbig bemalte Goldschnitt ist ungewöhnlich, ev. nachträglich und zeitgenössisch mit dem Einband aus dem 19. Jh. Reste des Metallfadens beim Kapital. Ohne Schließen.
Tabulae codicum, I, 4. — Hoffmann/Wehli 1929/1992, 98, 1. — Hermann 1932, 61 f., Kat. 57. — Unterkircher 1957, 2. — Csapodi 1973, 273, Nr. 394. — Bibliotheca Hungarica 1988–1994, I., 33–34, Nr. 31. — Bibliotheca Corviniana 1990, 61, Nr. 166. — Matthias Corvinus 1994, 57–58, Kat. 18 (Brigitte Mersich). — Madas 2009, 57, Nr. 78.
(1r–231v) Titus Livius: Ab urbe condita. Decas
prima (Briscoe 1991). Tit.: Titi Livii Patvini (!)
ab urbe condita liber primus
incipit... Finis deo gratias. Iohannes Franciscus de sancto Geminiano
scripsit.
(1r–v) Prolog; (1v–25r) Lib. I; (25v–50v) Lib. II; (50v–79r) Lib. III; (79v–104r) Lib. IV; (104r–127v) Lib. V; (127v–146v) Lib. VI; (147r–166v) Lib. VII; (167r–186v) Lib. VIII; (186v–209v) Lib. IX; (209v–231v) Lib. X;
(232r–v) . Leer.
Für den Buchschmuck dieses Codex, 1932 von Hermann Julius Hermann als eine um 1470 entstandene Florentiner Arbeit der Richtung Francesco del Chiericos bezeichnet (61 f., Nr. 57), wurde im Ausstellungskatalog der ÖNB aus dem Jahr 1994 eine mögliche Herkunft aus dem Atelier des Mariano del Buono vorgeschlagen (Matthias Corvinus, Kat. 18). Dieser Vorschlag beruhte auf der Beobachtung, dass der Schreiber unseres Codex mit jenem der Livius-Ausgaben Cod. Ser. n. 12758 sowie New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 identisch ist und die beiden letztgenannten (zusammengehörenden) Codices im Atelier des Mariano illuminiert wurden. Allerdings ist Cod. 22 von den Maßen her wesentlich größer und geht daher wohl nicht auf dieselbe Bestellung zurück. In der Regel bildeten Schreiber und Illuminatoren keine festen Teams: die Cartolai mussten die verschiedenen Kräfte von Auftrag zu Auftrag je nach Kundenwunsch und Verfügbarkeit neu zusammenstellen. Stets gleichbleibende Gruppierungen sind daher eher die Ausnahme. Auch die Annahme, dass Cod. 22 vom selben Buchmaler dekoriert wurde wie Cod. Ser. n. 12758, muss aufgegeben werden. Vielmehr dürfen wir dem Urteil Ulrike Bauer-Eberhardts folgen, die 2008 im Zuge ihres Beitrags zum Buchschmuck der Münchner Corvinen auch für Cod. 22 die Hand des Francesco del Chierico (1433–1484) identifizierte und damit Hermanns erste Einordnung präzisierte (Bauer-Eberhardt 2008, 117). Ihr Vergleichsbeispiel ist die um 1465 entstandene Celsus-Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 69, deren gesamter Aufbau der Rankenbordüre bis hin zur Typik der Putten dem Wiener Cod. 22 sehr nahestehen.
Charakteristisch für Francesco del Chiericos Stil ist die überaus exakte, sehr fein ausgeführte Zeichnung, die vielleicht seiner ursprünglichen Ausbildung als Goldschmied geschuldet war (zu Francescos Leben s. Levi D’Ancona 1962, 112–114 und Garzelli 1985), 163 f. Seine zarten, sich sanft verjüngenden Weißranken enden vorzugsweise in kleinen, mandel- oder herzförmigen Blattformationen. Die wie Schachtelhalme ineinander gesteckten Zweige weisen trichterförmige Nodi mit gewellten Rändern auf. Die bewimperten Goldtropfen, an deren Scheitelpunkt jeweils ein längerer, von Querstricheln akzentuierter Faden sitzt, ordnete er gern in Dreiecksformationen an. Aus den zahlreichen Beispielen seines Ateliers sei hier das Rankenwerk einer Corvine aus Györ, Diözesanbibliothek, Armadio I, No. 1, zum Vergleich herangezogen, das die beschriebenen Charakteristika vor Augen führt und zudem mit seiner Datierung in das Jahr 1467 einen Hinweis auf die zeitliche Einordnung des Cod. 22 in die späten 1460er Jahre gibt. In aufwendiger dekorierten Codices bereicherte Francesco sein Fleuronnée mit bunten Blüten und Blättchen, darunter auch – wie in Cod. 22 – mit Distelblüten und gelben Zitrusfrüchten in Deckfarbenmalerei. (Pomeranzen und Zitronen, von den Medici gehandelt und um die Mitte des 15. Jahrhunderts erstmals auch in Florenz kultiviert, zählten zur exquisiten Luxusware, s. Galetti 1996, 197–216; sie waren Symbole einer wohlhabenden Elite.)
Francesco war jedoch nicht nur ein begnadeter Dekorationsmaler. Dank seiner Lehre bei Fra Angelico beherrschte er die qualitätvolle Figurenzeichnung ebenso. Seine sicher umrissenen Figuren modellierte er in zarten Ockertönen und vermied dabei starke Hell-Dunkel-Kontraste, sodass die Körper plastisch, durch den Sfumato-Effekt lebendig und niemals statuarisch oder steif erscheinen. Seine Protagonisten zeichnen sich durch feine Gesichtszüge und leicht verhangenen Blick aus, das Haar bildet über der Stirn meist einen größeren Schopf und lässt die Schläfen frei (“Geheimratsecken”), die Putten haben stark vorgewölbte Bäuchlein. Sehr gut bietet sich die Corvine Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 2 (Cicero) hinsichtlich der Ausführung der Putten mit ihren birnenförmigen Körpern, den pausbackigen Gesichtern, bis hin zu den Flügeln mit den darauf aufgesetzten, hellen Punktreihen zum Vergleich an. Der Codex kann grob zw. 1460 und 1470 datiert werden. Aus derselben Zeit stammt auch Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 6 (Eusebius), dessen zwei Wappenhalter-Putten der ersten Seite sogar denselben Vorlagen folgen, wie sie für Cod. 22 verwendet wurden. Genauer datiert sind die beiden, ebenfalls aus seinem Atelier stammenden, vergleichbaren Codices Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. lat. 160 (dat. 1467), und Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. lat. 10, der vor 1468 geschrieben und zunächst vermutlich von Johannes Vitéz angekauft worden war, bevor er in die königliche Bibliothek aufgenommen wurde (zu den Handschriften siehe The Buda Workshop of the Corvina Library 2018, 138 f., Kat. F2 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 2), 152 f., Kat. F9 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 6), 192 f., Kat. H4 (Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 160), 142 f., Kat. F4 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 10). – „Az ország díszére” 2020, 288–290, Kat. F2 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 2, Edina Zsupán), 312 f., Kat. F9 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 6, Edina Zsupán), 368–371, Kat. H4 (Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. Lat. 160, Dániel Pócs), 295–298, Kat. F4 (Budapest, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Egyetemi Könyvtár, Cod. Lat. 10, Dániel Pócs)).
Angesichts der genannten Codices fallen jedoch nicht nur Ähnlichkeiten in Rankengestaltung und Vorlagenwahl, sondern auch leichte Unterschiede in der Ausführung auf. Dies könnte zwar angesichts der vielen Aufträge leichthin mit unterschiedlicher Sorgfalt oder Tagesverfassung erklärt werden. Francesco del Chierico war jedoch nach dem Tod des Illuminators Zanobi Strozzi im Jahr 1468, mit dem er zuletzt noch am Buchschmuck der Antiphonarien für die Badia von Florenz gearbeitet hatte, in die Position eines Werkstattleiters aufgestiegen und managte nun nachweislich eine Gruppe von Illuminatoren (unter ihnen Attavante degli Attavanti, Cosimo und Francesco Rosselli, s. Garzelli 1985, 113–118). Ohne Zweifel führte er seither eines der produktivsten und gefragtesten Ateliers der Stadt mit vielen Mitarbeitern. Seine Arbeiten waren von der Badia ebenso wie von den Medici (insbesondere Lorenzo de Medici) und Federico da Montefeltre hoch geschätzt. Dank der Umtriebigkeit und guten Beziehungen seines Buchführers Vespasiano da Bisticci (1421–1498), wurden zahlreiche von ihm bzw. in seiner Werkstatt illuminierte Codices auch an fürstliche Sammler und Gelehrte nördlich der Alpen verkauft.
Diese Livius-Ausgabe ging an den ungarischen König Matthias Corvinus, wie das ungarisch-böhmische Wappen auf der ersten Seite verrät. Das Wappen wurde jedoch erst gegen Ende der 1480er Jahre vom sog. “Zweiten Budaer Wappenmaler” ausgeführt, ohne damit ein Vorgängerwappen zu übermalen (Madas 2009). Da der übrige Buchschmuck wohl in den späten 60er Jahren entstanden ist und Francesco del Chierico Ende der 80er Jahre nicht mehr lebte, dürfte der Band entweder eine Voranfertigung gewesen sein, die erst zu einem späteren Zeitpunkt ab Lager eines Buchhändlers zu Matthias Corvinus nach Buda geschickt wurde, oder er wurde von einem (nicht nachgewiesenen) ungarischen Vorbesitzer in die königliche Bibliothek übernommen (siehe Offene Fragen zur Provenienz).
Cod. 22 gehört zu einer Gruppe Florentiner Handschriften mit der Ersten Dekade des Livius, die Verwandte von M (Mediaceus, Familie μ = Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut.63.19, 10. Jh.) sind. M ist jene Handschrift im Stemma, die den Nicomachischen Archetyp, ein im späten 4. oder im frühen 5. Jahrhundert überarbeitetes Textzeugnis, am treuesten bewahrt hat (vgl. Reeve 1996a, 113–114). Nach Billanovichs Vermutung entstand M zusammen mit einer Parallel- oder Zwillingshandschrift im Jahre 976 als Präsentationshandschriften anlässlich des Italienzuges Ottos I. und Ottos II. in Verona. Während die Parallelhandschrift, die vielleicht mit dem in der Neuzeit verlorengegangenen Codex Vormaciensis (Vo, Familie μ) identisch ist, von den Regenten über die Alpen gebracht wurde, blieb M in der Dombibliothek in Verona. Im Jahr 1376 gelangte er dann in den Besitz Antonios de Legnagos. Seine weitere Geschichte ist unbekannt, bis ihn Mitte des 16. Jhs. Cosimo I. de’ Medici, Großherzog von Toscana (1537–1576) neu binden ließ (vgl. Billanovich 1959).
Innerhalb der Florentiner Gruppe um M ist Florenz, Biblioteca Riccardiana, Ricc. 485 die älteste Handschrift (erste Hälfte des 14. Jhs.) und gleichzeitig die Quelle der ganzen Gruppe. Cod. 22 wurde, im Gegensatz zu den Abschriften der anderen Dekaden dieses Sets, nicht direkt von Florenz, Biblioteca Riccardiana, Ricc. 485 kopiert, gehört aber ebenfalls der Gruppe um M an (vgl. Reeve 1996a). Cod. 22 wird in Reeve 1996b genannt. Zur Texttradition der ersten Dekade siehe zusammenfassend de Franchis 2015.
Nach Albinia de la Mare ist Cod. 22 der erste Teil einer Livius-Reihe, deren andere zwei Bände New York, Public Library, Spencer Coll. MS. 27 (3. Dekade) und Wien, ÖNB Cod. Ser. n. 12758 (4. Dekade) sind (de la Mare 1971, 185). Gestützt wird diese Annahme durch die Person des Schreibers aller drei Handschriften, Giovanfrancesco Marzi (Johannes Franciscus de Sancto Geminiano). Während jedoch die beiden anderen Handschriften in ihren formalen Charakteristika übereinstimmen, unterscheidet sich Cod. 22 leicht. De la Mare führt das geringere kalligraphische Niveau der Schrift der Handschrift auf eine frühere Schaffensphase des Schreibers zurück (vgl. de la Mare 1971, 185, Anm. 57). Die Sonderstellung von Cod. 22 zeigt sich auch in der Person des Miniators, Francesco Antonio del Chierico. Die beiden anderen Bände wurden von Mariano del Buono ausgestattet (vgl. Cod. ser. n. 12758).
Wie die anderen Florentiner Bianchi girari-Handschriften aus den 1460er und 70er Jahren in der Bibliotheca Corviniana, hatte wohl auch Cod. 22 einen ungarischen Vorbesitzer vor Matthias Corvinus. Die Mehrzahl dieses Bestandes gelangte aus den Bibliotheken des Johannes Vitéz de Zredna, György Handó und Janus Pannonius in die königliche Bibliothek. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Cod. 22 demselben Weg folgte, auch wenn diese Bibliophilen auch andere Livius-Abschriften besaßen: Johannes Vitéz de Zredna: Wien, ÖNB, Cod. 3099; München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 15731, Clm 15732, Clm 15733, György Handó: Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Barb. 168 (Dekade 1), Verona, Biblioteca Capitolare, CXXXVI (Dekade 3), CXXXVII (Dekade 4). Die Bände aus dem Besitz von György Handó gelangten später in die Bibliotheca Corviniana.
Siehe auch die offenen Fragen zur Provenienz bei Cod. ser. n. 12758.
Die Wiener Corvinen. Beschreibung von Wien, ÖNB, Cod. 22. Version 0.1, 8.5.2025. URL: https://digi-doc.onb.ac.at/fedora/objects/o:crv.cod-22/methods/sdef:TEI/get
Verantwortlich für die BeschreibungIvana (TEI codierung), Katharina (intelle inhalt), Ivana Dobcheva (Kodikologie), Katharina Kaska (Kodikologie), Marianne Rozsondai (Einband), Friedrich Simader (Geschichte), Maria Theisen (Buchschmuck), Edina Zsupán (Texterschließung, Literaturerfassung)
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